Unterm Rad
paarmal suchte Hans den »Falken« wieder auf. Er fand daselbst die alte Dämmerung und den alten üblen Geruch, die alten Winkel und lichtlosen Treppenhäuser; es saßen wieder greise Männer und Weiber vor den Türen, und ungewaschene, strohblonde Kinder trieben sich mit
Geschrei herum. Der Mechaniker Forsch war noch älter geworden und kannte Hans nicht mehr und antwortete auf seinen schüchternen Gruß nur mit einem höhnischen Meckern. Der
Großjohann, genannt Garibaldi, war gestorben und ebenso die Lotte Frohmüller. Der Briefträger Rötteler war noch da. Er klagte, die Buben hätten ihm seine Spieluhr kaputtgemacht, er bot ihm zu schnupfen an und versuchte dann, ihn anzubetteln; schließlich erzählte er von den Brüdern Finkenbein, der eine sei jetzt in der Zigarrenfabrik und saufe bereits wie ein Alter, der andere sei nach einer Kirchweihstecherei auf und davon und fehle schon seit einem Jahr. Alles machte einen kläglichen und kümmerlichen Eindruck. Und einmal ging er am Abend in die Gerberei hinüber. Es zog ihn durch den Torweg und über den feuchten Hof, als läge in dem großen alten Hause seine Kindheit verborgen, mit allen ihren verlorengegangenen Freuden.
Über die krumme Treppe und den gepflasterten Öhrn kam er an die finstere Treppe, tastete sich zum Estrich durch, wo die Häute aufgespannt hingen, und sog dort mit dem scharfen
Ledergeruch eine ganze Wolke plötzlich hervorstürmender Erinnerungen ein. Er stieg wieder herab und suchte den hinteren Hof auf, wo die Lohgruben und die schmal überdachten, hohen Gerüste zum Trocknen der Lohkäse waren. Richtig saß auf der Mauerbank die Liese, hatte einen Korb Erdäpfel zum Schälen vor und ein paar horchende Kinder um sich herum. Hans blieb in der dunklen Türe stehen und lauschte hinüber.
Ein großer Friede erfüllte den eindämmernden Gerbergarten, und außer dem schwachen
Rauschen des Flusses, der hinter der Hofmauer vorüberzog, hörte man nur das Messer der
Liese beim Kartoffelschälen knirschen und ihre Stimme, die erzählte. Die Kinder saßen ruhig kauernd und regten sich kaum. Sie erzählte die Geschichte vom Sankt Christoffel, wie in der Nacht ihn eine Kindesstimme über den Strom ruft. Hans hörte eine Weile zu, dann ging er leise durch den schwarzen Öhrn zurück und nach Hause. Er spürte, daß er doch nicht wieder ein Kind werden und abends im Gerbergarten bei der Liese sitzen konnte, und er mied nun wieder das Gerberhaus so gut wie den »Falken«.
Sechstes Kapitel
Es ging schon stark in den Herbst hinein. Aus den dunkeln Tannenwäldern leuchteten die
vereinzelten Laubbäume gelb und rot wie Fackeln, die Schluchten hatten schon starke Nebel, und der Fluß dampfte morgens in der Kühle. Noch immer streifte der blasse Exseminarist
tagtäglich im Freien umher, war unlustig und müde und floh das bißchen Umgang, das er hätte haben können. Der Arzt verschrieb Tropfen, Lebertran, Eier und kalte Waschungen. Es war kein Wunder, daß alles nicht helfen wollte. Jedes gesunde Leben muß einen Inhalt und ein Ziel haben, und das war dem jungen Giebenrath verlorengegangen. Nun war sein Vater entschlossen, ihn entweder Schreiber werden oder ein Handwerk lernen zu lassen. Der Junge war zwar noch
schwächlich und sollte erst noch ein wenig mehr zu Kräften kommen, doch konnte man jetzt nächstens daran denken, Ernst mit ihm zu machen.
Seit die ersten verwirrenden Eindrücke sich gemildert hatten und seit er auch an den Selbstmord selber nicht mehr glaubte, war Hans aus den erregten und wechselreichen Angstzuständen in eine gleichmäßige Melancholie hinübergeraten, in die er langsam und wehrlos wie in einen weichen Schlammboden versank.
Nun lief er in den Herbstfeldern umher und erlag dem Einfluß der Jahreszeit. Die Neige des Herbstes, der stille Blätterfall, das Braunwerden der Wiesen, der dichte Frühnebel, das reife, müde Sterbenwollen der Vegetation trieb ihn, wie alle Kranken, in schwere, hoffnungslose Stimmungen und traurige Gedanken. Er fühlte den Wunsch, mit zu vergehen, mit einzuschlafen, mit zu sterben, und litt darunter, daß seine Jugend dem widersprach und mit stiller Zähigkeit am Leben hing. Er schaute den Bäumen zu, wie sie gelb wurden, braun wurden, kahl wurden, und dem milchweißen Nebel, der aus den Wäldern rauchte, und den Gärten, in welchen nach der letzten Obstlese das Leben erlosch und niemand mehr nach den farbig verblühenden Astern sah, und dem Flusse, in welchem Bad und Fischerei ein Ende hatte, der
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