Unterm Rad
Vorübergehenden mit Namen an und bediente sie reichlich mit Sprüchen. »Hans
Giebenrath junior, mein teurer Sohn, höre, was ich dir sage! Wie spricht Sirach? Wohl dem, der nicht bösen Rat gibt und davon nicht ein böses Gewissen hat! Gleichwie die grünen Blätter auf einem schönen Baum, etliche abfallen, etliche wieder wachsen, also geht es mit den Leuten auch: etliche sterben, etliche werden geboren. So, nun kannst du heimgehen, du Seehund.«
Dieser alte Forsch stak, seiner frommen Sprüche unbeschadet, voll von dunklen und
sagenhaften Berichten über Gespenster und dergleichen. Er kannte die Orte, wo solche
umgingen, und schwankte immer zwischen Glauben und Unglauben an seine eigenen
Geschichten. Meistens begann er sie in zweiflerischem, prahlerisch wegwerfendem Ton, als mache er sich über die Geschichte und über die Zuhörer lustig, aber allmählich, während des Erzählens, duckte er sich ängstlich, senkte seine Stimme mehr und mehr und endete in einem leisen, eindringlichen, gruseligen Flüsterton.
Wieviel Unheimliches, Undurchschauliches, dunkel Anreizendes enthielt die arme kleine Gasse! In ihr hatte auch, nachdem sein Geschäft eingegangen und seine verwahrloste Werkstatt vollends verlottert war, der Schlosser Brendle gewohnt. Er war halbe Tage lang an seinem Fensterchen gesessen und hatte finster in die lebhafte Gasse geblickt, und zuweilen, wenn eins der
abgerissenen, ungewaschenen Kinder aus den Nachbarhäusern ihm in die Hände fiel, hatte er es mit wüster Schadenfreude gequält, an den Ohren und Haaren gerissen und ihm den ganzen Leib blau gekniffen. Eines Tages aber hing er an seiner Treppe, an einem Stück Zinkdraht erhängt, und sah so scheußlich aus, daß niemand sich zu ihm getraute, bis der alte Mechaniker Forsch von hinten her den Draht mit einer Blechschere abschnitt, worauf die Leiche mit
heraushängender Zunge vornüber fiel und die Treppe hinunterpolterte, mitten in die entsetzten Zuschauer hinein.
Sooft Hans aus der hellen, breiten Gerbergasse in den finstern, feuchten »Falken« trat, überkam ihn mit der seltsamen, stickigen Luft eine wonnevoll grausige Beklemmung, eine Mischung von Neugierde, Furcht, schlechtem Gewissen und seliger Abenteuerahnung. Der »Falken« war der einzige Ort, an welchem etwa noch ein Märchen, ein Wunder, ein unerhörtes Schrecknis
passieren konnte, wo Zauberei und Gespensterwesen glaubhaft und wahrscheinlich war und wo man dieselben schmerzhaft köstlichen Schauder empfinden konnte wie beim Lesen der Sagen und der skandalösen Reutlinger Volksbücher, welche von den Lehrern konfisziert wurden und die Schandtaten und Bestrafungen des Sonnenwirtle, des Schinderhannes, des Messerkarle, des Postmichels und ähnlicher dunkler Helden, Schwerverbrecher und Abenteurer berichteten. Außer dem »Falken« gab es aber noch einen Ort, wo es anders war als überall, wo man etwas erleben und hören und sich auf dunklen Böden und in ungewöhnlichen Räumen verlieren konnte. Das war die nahe, große Gerberei, das alte riesige Haus, wo auf halbdunklen Böden die großen Häute hingen, wo es im Keller verdeckte Gruben und verbotene Gänge gab und wo abends die Liese allen Kindern ihre schönen Märchen erzählte. Es ging dort stiller, freundlicher und menschlicher zu als im »Falken« drüben, aber nicht minder rätselhaft. Das Walten der Gerbergesellen in den Gruben, im Keller, im Lohgarten und auf den Estrichen war seltsam und eigentümlich, die großen gähnenden Räume waren still und ebenso anziehend wie unheimlich, der gewaltige und mürrische Hausherr ward wie ein Menschenfresser gefürchtet und gescheut, und die Liese ging in dem merkwürdigen Hause umher wie eine Fee, allen Kindern, Vögeln, Katzen und Hündlein eine
Schützerin und Mutter, voll von Güte und voll von Märchen und Liederversen. In dieser ihm längst entfremdeten Welt bewegten sich jetzt die Gedanken und Träume des Knaben. Aus
seiner großen Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit floh er in die vergangene gute Zeit zurück, da er noch voll von Hoffnungen gewesen war und die Welt vor sich hatte stehen sehen wie einen riesengroßen Zauberwald, welcher grausige Gefahren, verwunschene Schätze und smaragdene Schlösser in seiner undurchdringlichen Tiefe verbarg. Ein kleines Stück war er in diese Wildnis vorgedrungen, aber er war müde geworden, ehe die Wunder kamen, und stand nun wieder am
rätselvoll dämmernden Eingang, diesmal als ein Ausgeschlossener, in müßiger Neugier. Ein
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