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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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gewesen, ohne daß er es damals gleich merkte. Zuerst hatten die Abende bei der Liese aufgehört, dann das Goldfallenfangen am Sonntagvormittag, dann das Märchenlesen, und so eins ums andere bis aufs Hopfenpflücken und die Hammermühle im Garten. Oh, wo war das alles hingekommen? Und es geschah, daß der frühreife Jüngling nun in seinen kranken Tagen eine unwirkliche zweite Kinderzeit erlebte. Sein um die Kindheit
    bestohlenes Gemüt floh jetzt mit plötzlich ausbrechender Sehnsucht in jehe schönen
    dämmernden Jahre zurück und irrte verzaubert in einem Walde von Erinnerungen umher, deren Stärke und Deutlichkeit vielleicht krankhaft war. Er erlebte sie alle mit nicht weniger Wärme und Leidenschaft, als er sie früher in Wirklichkeit erlebt hatte; die betrogene und vergewaltigte Kindheit brach wie eine lang gehemmte Quelle in ihm auf.
    Wenn ein Baum entgipfelt wird, treibt er gern in Wurzelnähe neue Sprossen hervor, und so kehrt oft auch eine Seele, die in der Blüte krank wurde und verdarb, in die frühlinghafte Zeit der Anfänge und ahnungsvollen Kindheit zurück, als könnte sie dort neue Hoffnungen entdecken und den abgebrochenen Lebensfaden aufs neue anknüpfen. Die Wurzelsprossen geilen saftig und eilig auf, aber es ist ein Scheinleben, und es wird nie wieder ein rechter Baum daraus.
    Auch Hans Giebenrath erging es so, und darum ist es notwendig, ihm auf seinen Traumwegen im Kinderlande ein wenig zu folgen.
    Das Giebenrathsche Haus stand nahe bei der alten steinernen Brücke und bildete die Ecke zwischen zwei sehr verschiedenartigen Gassen. Die eine, zu welcher das Haus gerechnet wurde und gehörte, war die längste, breiteste und vornehmste der Stadt und hieß Gerbergasse. Die zweite führte jäh bergan, war kurz, schmal und elend und hieß »Zum Falken«, nach einem uralten, längst eingegangenen Wirtshaus, dessen Schild ein Falke gewesen war.
    In der Gerbergasse wohnten Haus an Haus lauter gute, solide Altbürger, Leute mit eigenen Häusern, eigenen Kirchplätzen und eigenen Gärten, die sich hinterwärts in Terrassen steil bergan zogen und deren Zäune an den Anno siebzig errichteten, mit gelbem Ginster bewachsenen
    Bahndamm stießen. An Vornehmheit konnte mit der Gerbergasse nur noch der Marktplatz
    wetteifern, wo Kirche, Oberamt, Gericht, Rathaus und Dekanat standen und in ihrer reinlichen Würde durchaus einen städtisch wohlen Eindruck machten. Amtshäuser hatte nun zwar die
    Gerbergasse keine, aber alte und neue Bürgerwohnungen mit stattlichen Haustüren, hübsche altmodische Fachwerkhäuschen, nette helle Giebel; und es verlieh ihr eine Fülle von
    Freundlichkeit, Behagen und Licht, daß sie nur eine Häuserreihe besaß, denn jenseits der Straße lief am Fuß einer mit Balkenbrüstungen versehenen Mauer der Fluß dahin. War die Gerbergasse lang, breit, licht, geräumig und vornehm, so war der »Falken« das Gegenteil davon. Hier standen schiefe finstere Häuser mit fleckigem und bröckelndem Verputz, vorhängenden Giebeln, vielfach geborstenen und geflickten Türen und Fenstern, mit krummen Kaminen und schadhaften
    Dachrinnen. Die Häuser raubten einander Raum und Licht, und die Gasse war schmal, wunderlich gebogen und in eine ewige Dämmerung gehüllt, die bei Regenwetter oder nach Sonnenuntergang sich in eine feuchte Finsternis verwandelte. Vor allen Fenstern war an Stangen und Schnüren stets eine Menge Wäsche aufgehängt; denn so klein und elend die Gasse war, so viele Familien hausten darin, von all den Aftermietern und Schlafgängern gar nicht zu reden. Alle Winkel der schiefen, alternden Häuser waren dicht bewohnt, und Armut, Laster und Krankheit waren dort ansässig. Wenn der Typhus ausbrach, so war es dort, wenn einmal ein Totschlag geschah, so war es auch dort, und wenn in der Stadt ein Diebstahl vorkam, suchte man zuerst im »Falken«.
    Umherziehende Hausierer hatten dort ihre Absteigequartiere, unter ihnen der drollige
    Putzpulverhändler Hottehotte und der Scherenschleifer Adam Hittel, dem man alle Verbrechen und Laster nachsagte.
    In seinen ersten Schuljahren war Hans im »Falken« ein häufiger Gast gewesen. Zusammen mit einer zweifelhaften Rotte von strohblonden, abgerissenen Buben hatte er die Mordgeschichten der berüchtigten Lotte Frohmüller angehört. Diese war das geschiedene Weib eines kleinen Gastwirts und hatte fünf Jahre Zuchthaus hinter sich; sie war seinerzeit eine bekannte Schönheit gewesen, hatte unter den Fabriklern eine große Zahl von Schätzen gehabt und

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