Unterm Rad
zu öfteren
Skandalen und Messerstechereien Anlaß gegeben. Nun lebte sie einsam und brachte ihre Abende nach Fabrikschluß mit Kaffeekochen und
Geschichtenerzählen zu; dabei stand ihre Türe weit offen, und außer den Weibern und jungen Arbeitern hörte von der Schwelle aus stets auch eine Schar von Nachbarskindern ihr mit
Entzücken und Grausen zu. Auf dem schwarzen Steinherdchen kochte das Wasser im Kessel,
eine
Unschlittkerze brannte
daneben und
beleuchtete
zusammen mit
dem blauen
Kohlenfeuerchen den überfüllten, finsteren Raum mit abenteuerlichem Flackern, die Schatten der Zuhörer in ungeheuren Maßen an die Wand und Decke werfend und mit gespenstischer
Bewegung erfüllend.
Dort machte der achtjährige Knabe die Bekanntschaft der beiden Brüder Finkenbein und
unterhielt etwa ein Jahr lang, einem strengen väterlichen Verbot zum Trotz, eine Freundschaft mit ihnen. Sie hießen Dolf und Emil und waren die gerissensten Gassenbuben der Stadt, durch Obstdiebstähle und kleine Waldfrevel berühmt und Meister in unzähligen Geschicklichkeiten und Streichen. Sie handelten nebenher mit Vogeleiern, Bleikugeln, jungen Raben, Staren und Hasen, legten verbotenerweise Nachtangeln und fühlten sich in allen Gärten der Stadt wie zu Hause, denn kein Zaun war so spitzig und keine Mauer so dicht mit Glasscherben besteckt, daß sie nicht leicht hinübergekommen wären.
Vor allem aber war es Hermann Rechtenheil, der im »Falken« wohnte und an welchen Hans sich anschloß. Er war eine Waise und ein krankes, frühreifes, ungewöhnliches Kind. Weil sein eines Bein zu kurz war, mußte er beständig am Stock gehen und konnte nicht an den Gassenspielen teilnehmen. Er war schmal und hatte ein farbloses Leidensgesicht mit vorzeitig herbem Munde und allzu spitzem Kinn. In allerlei Handfertigkeiten war er ungemein geschickt, und namentlich hatte er eine gewaltige Leidenschaft für das Angeln, die er auf Hans übertrug. Dieser besaß damals noch keine Fischkarte, sie angelten aber trotzdem heimlich an versteckten Orten, und wenn Jagen eine Freude ist, so ist bekanntlich Wildern ein Hochgenuß. Der krumme Rechtenheil lehrte Hans die richtigen Ruten schneiden, Roßhaar flechten, Schnüre färben, Fadenschlingen drehen, Angelhaken schärfen. Er lehrte ihn auch aufs Wetter schauen, das Wasser beobachten und mit Kleie trüben, die rechten Köder wählen und sie richtig befestigen, er lehrte ihn die Fischarten unterscheiden, die Fische beim Angeln belauschen, die Schnur in richtiger Tiefe halten. Er teilte ihm ohne Worte und nur durch sein Beispiel und Dabeisein die Handgriffe und das feine Gefühl für den Augenblick des Anziehens oder Nachlassens mit. Die schönen, in Läden käuflichen Ruten, Korke und Glasschnüre und all das künstliche Angelzeug verachtete und verhöhnte er mit Eifer und überzeugte Hans davon, daß man unmöglich mit einer Angel fischen könne, die man nicht in allen Teilen selber gemacht und zusammengesetzt habe. Mit den
Brüdern Finkenbein kam Hans in Zorn auseinander; der stille, lahme Rechtenheil verließ ihn ohne Hader. Er streckte sich eines Februartages in sein ärmliches Bettlein, legte seinen Krückstock über die Kleider auf den Stuhl, fing an zu fiebern und starb schnell und still hinweg; die Falkengasse vergaß ihn sogleich, und nur Hans behielt ihn noch lange in gutem Andenken.
Mit ihm war aber die Zahl der merkwürdigen Falkenbewohner noch lange nicht erschöpft. Wer kannte nicht den wegen Trunksucht entlassenen Briefträger Rötteler, der alle vierzehn Tage besoffen auf der Straße lag oder nächtliche Skandale aufführte, sonst aber gut wie ein Kind war und beständig voll Wohlwollen lächelte? Er ließ Hans aus seiner ovalen Dose schnupfen, ließ sich gelegentlich Fische von ihm schenken, briet sie in Butter und lud Hans zum Mitessen ein. Er besaß einen ausgestopften Bussard mit Glasaugen und eine alte Spieluhr, die mit dünnen, feinen Tönchen veraltete Tanzweisen aufspielte. Und wer kannte nicht den uralten Mechaniker Forsch, der immer Manschetten trug, auch wenn er barfuß ging? Als der Sohn eines strengen
Landschullehrers alter Schule konnte er die halbe Bibel und ein paar Ohren voll Sprichwörter und moralische Sentenzen auswendig; aber weder dies noch sein schneeweißes Haar hinderte ihn, vor allen Weibern den Schwerenöter zu spielen und sich häufig zu betrinken. Wenn er ein bißchen geladen hatte, saß er gern auf dem Prellstein an der Ecke des Giebenrathschen Hauses, rief alle
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