Unterwegs im Namen des Herrn
Nacht. Beim Aufstehen wirft Ingo mit seiner Fototasche das Glas einer Frau am Nebentisch um. Es gibt wieder einmal Zirkus. Ich mache, dass ich wegkomme.
Im Zimmer erwarte ich, dass sich Ingo mit mir auf die Terrasse stellt, die um das Haus herum verläuft und von allen Zimmern aus betreten werden kann, doch er legt sich tatsächlich in sein Bett.
»Was ist mit dir? Keine Perseiden?«
»Ich habs nicht so mit Sternschnuppen. Ich bin viel zu müde.«
Das Kissen ist ihm nicht geheuer, er wirft es neben das Bett. Er dreht sich um und versteckt den Kopf unter seinem Sweater. Unglaublicherweise schnarcht er schon nach drei Minuten los.
Ich stehe einige Zeit da und frage mich, was ich tun soll, denn müde bin ich auch. Aber im Zimmer ist es unerträglich heiß, es müsste sowieso mal gelüftet werden. So gehe ich auf die Terrasse hinaus, wo ich die intelligente Frauvom Abendessen treffe. Sie fragt mich, ob ich Feuer hätte. Ich hole Ingos Feuerzeug. Sie bedankt sich, zündet ihre Zigarette an und schaut in den Himmel.
»Wartest du auf die Sternschnuppen?«, fragt sie.
Ich sage Ja, daraufhin lächelt sie und stellt sich wortlos zehn Meter von mir weg. Offenbar will sie dem Ereignis allein beiwohnen. Mir ist so etwas sehr sympathisch, ich kann sie gut verstehen. Ich erinnere mich noch an die Sonnenfinsternis 1999. Wir fuhren und fuhren und fuhren, um einen einsamen Flecken zu finden, und schließlich landeten wir auf einer Wiese im Burgenland, wo es zuging wie bei einem ausverkauften Fußballländerspiel.
Ich starre in die Nacht über mir und warte. Es ist kaum bewölkt, der Himmel ist so frei, dass man die Perseiden nur so herabregnen sehen sollte. Ich sehe nichts. Ich hole mir ein Mineralwasser und massiere mir den Nacken. Es vergeht eine Viertelstunde, es vergeht eine halbe Stunde. Die intelligente Frau kommt noch einmal auf mich zu.
»Schön, nicht?«, sagt sie mit belegter Stimme.
»Ja … Na ja …«
»Gute Nacht dann.«
»Warte! Hast du wirklich was gesehen?«
»Bei zehn habe ich aufgehört zu zählen. Und du?«
»Ja, ungefähr … etwa so viele werden es bei mir auch gewesen … na dann, gute Nacht.«
Ich warte noch eine halbe Stunde. Ich bin schrecklich müde, aber ich kann nicht glauben, dass ich sogar am Tag des Perseidenschauers keine Sternschnuppe sehe. Ich habe nämlich noch nie im Leben eine gesehen, niemals, nicht eine einzige, obwohl ich mich schon in vielen Nächten redlich darum bemüht habe, ich war mehr als einmal nahe ander Genickstarre. Mir tut keine Sternschnuppe den Gefallen, sich von mir beobachten und womöglich als Vehikel für meine fragwürdigen Wünsche missbrauchen zu lassen.
Nachdem alle Lichter in den Geschäftslokalen an der Straße erloschen sind, warte ich noch eine Viertelstunde. Niemand ist unterwegs, niemand schaut zum Fenster heraus oder steht auf der Terrasse. Ich bin allein, ich bin in Bosnien. Meine Augen brennen, meine Glieder fühlen sich zerschlagen an, ich habe Kopfschmerzen und starken Durst. Durch die offene Tür höre ich Ingo schnarchen. Zwei Häuser weiter miaut eine Katze. Es ist zwecklos.
»Wow«, höre ich irgendwo unter mir, während ich in das Zimmer zurückgehe.
5. Kapitel
»Auf zur Messe!« – Ein leeres Hotel – Fahrt nach Cenacolo – Ingo erklärt dem Kappenmann den Fotoapparat – Ich verstecke mich beim Gebet – Die Exjunkies legen Zeugnis ab – Die Sonnenstrahlen schenkt der Herr – »Keine Schmerzmittel!« – Der vergessene Italiener
Wir werden durch Tritte gegen unsere Tür aus dem Schlaf gerissen. Ich schaue auf die Uhr, es ist acht. Ich lausche, alles ist still. Gerade beginne ich zu überlegen, ob ich diesen Anschlag wohl nur geträumt habe, da hämmert wieder jemand gegen die Tür. Eine Stimme ruft: »Mess!« Ich höre Schritte, entfernte Stimmen. Ich schlafe wieder ein.
Um halb zehn schrillt mein Handywecker. Der Ton ist furchtbar laut, ich sitze sofort senkrecht da und spüre mein Herz bis zum Hals klopfen. Ich habe Kopfschmerzen, mir ist schlecht, und als ich mich strecke, fährt mir ein Krampf in den Arm, der mich aufschreien lässt.
Ingo hat Kopfhörer im Ohr und bastelt an seinem Notebook herum. Ich trinke Mineralwasser. Es ist warm. Gerade will ich in einem Clever & Smart-Band zu lesen beginnen, da schleudert Ingo die Kopfhörer auf den Boden. Er sieht mich kurz von der Seite an, dann starrt er wieder auf die Tür.
»Hast du das mitgekriegt? Hast du das bitte mitgekriegt? Dass der uns da herausgetrommelt hat
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