Unterwegs im Namen des Herrn
sprechen, wenn überhaupt, nur leise. Ich kriege mit, wie der Kappenmann seinen uralten Fotoapparat auspackt und von Ingo wissen will, ob er damit auch digital fotografieren könne.
»Nein, aber Sie können die Fotos bei der Entwicklung digital ausarbeiten lassen. Da kriegen Sie eine CD mit den Bildern drauf.«
»Aha. Aber da drauf geht das nicht?«
»Nein, da drauf geht das nicht.«
»Wieso nicht?«
»Da hinten ist das Klo, wenn wer muss«, ruft der Reiseleiter und deutet unbestimmt in Richtung eines freundlichen Pinienwäldchens.
»Weil das kein digitaler Fotoapparat ist.«
»Aha. Aber digitale Fotos kann ich machen?«
Zwei junge Männer tauchen auf und stellen sich als Hannes und Fred vor. Hannes bittet uns, zunächst gemeinsam zu beten. Alles erhebt sich, und das Gemurmel geht wieder los. Ich bleibe sitzen und verstecke mich reglos hinter dem Reiseleiter, um die Zeugnisableger nicht gleich auf meinen Unglauben aufmerksam zu machen, wer weiß, welche Schwierigkeiten mir sonst blühen. Das ist wie im Theater, wo ich auch nicht in der ersten Reihe sitzen mag, weil ich Angst habe, von den Darstellern angespielt zu werden.
Ich versuche auszurechnen, das wievielte Gebet dieses hier heute für meine Mitpilger wohl ist. Tischgebet beim Frühstück, dann die Messe … ich weiß leider nicht, wie viele Gebete ich für die Messe veranschlagen soll, und komme daher zu keinem Ergebnis.
Hannes beginnt nun Zeugnis abzulegen – wieder ein Begriff für meine Liste, auf der schon Gospa und Gnadenstätte stehen. Er stammt aus Südtirol, ist zwanzig und sieht zehn Jahre älter aus. In kurzen, abgehackten Sätzen erzählt er von seiner Drogenkarriere.
»Und da habe ich! Viele Fehler gemacht! Ich bin! In schlechte Kreise! Gekommen! Ich habe meiner! Familie sehr viel Kummer! Gemacht! Ich habe alles! Genommen was man nehmen kann! Ich war zwei Jahre! Heroinsüchtig! Ich habe dann! Über Kontakte meiner Familie! Die Chance bekommen! Hierherzukommen und ein neues Leben! Zu beginnen!«
Er erzählt wirklich eine interessante Geschichte, und ich höre aufmerksam zu. Anscheinend wird erwartet, dass er sich vor uns nach allen Regeln der Kunst zur Sau macht,das dürfte generell ein obligatorischer Teil des Programms vor Ort sein. Der junge Mann lebt nun seit zwei Jahren in der Gemeinde, und genauso lange hat er auch seine Familie nicht gesehen. Er betet und arbeitet. Die Gemeinde besteht aus etwa vierzig Männern zwischen sechzehn und fünfundfünfzig. Ich sitze hinter dem Reiseleiter, der den Zeugnisableger alle dreißig Sekunden unterbricht und etwas einwirft, was uns einen Sachverhalt näher erläutern soll, was jedoch in Wahrheit alles nur verkompliziert, und habe ziemlich unpassende Assoziationen.
Während sein Kollege uns von seinem Leben berichtet, steht Fred daneben in der Sonne. Der Reiseleiter gibt ihm stumm Zeichen, sich einen Meter nach links in den Schatten zu stellen. Fred lächelt und schüttelt den Kopf, dabei deutet er mit großer Geste auf den Himmel. Das soll wohl heißen, der Herr gibt’s, also ist es gut, ich schwitze hier, ich kann nicht anders. Der Reiseleiter ist sehr zufrieden. Hinter mir raschelt Intschu-Tschuna mit seiner Chips-Tüte.
Bald darauf ist Fred an der Reihe. Er stammt aus München. Er hat eine ähnliche Drogenkarriere hinter sich, und ebenso wie Hannes prügelt er verbal kräftig auf sich selbst ein. Nach seiner eigenen Geschichte erzählt er von Cenacolo selbst, von den Projekten der Gemeinschaft, was ich alles sofort wieder vergesse bis auf die hiesige Gepflogenheit, Gehbehinderte im Morgengrauen auf den Kreuzberg zu tragen.
»Jööööh!«, tönt es irgendwo von rechts.
Fred lenkt das Thema nun elegant auf den Shop: Alles, was wir darin erwerben, kommt guten Projekten zugute. Etwa die Lebensgeschichte eines ehemaligen Mitglieds, Marco, der ein Tagebuch über seine AIDS -Erkrankung geführthat. Das Buch ist hier erschienen, nach seinem Tod, dem er bewusst ohne alle Schmerzmittel entgegengeschritten ist, um alles Leid dankbar anzunehmen, das der Herr ihm auferlegt. Es heißt »Jenseits AIDS « und kostet nur 10 Euro.
Solche Geschichten ertrage ich nun wirklich nicht, ich habe sowieso schwere Angstattacken, seit dem Aufwachen schwappen regelmäßig Wellen von Furcht und Horror über mich. Zur Ablenkung, bloß um irgendetwas zu tun, mache ich das Cola auf. Selbstverständlich ist es genau in diesem Moment vollkommen still, und auf das Zischen meiner Dose folgt ein Zucken der haarigen Ohren
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