Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
ausländischen Studenten lasen. Denen war meist verboten, die Texte abzuschreiben, damit sie nicht in die Hände von ausländischen Journalisten und Botschaftsmitarbeitern gelangen konnten. Ausländische Dolmetscher, die mit einer Delegation eine Fabrik besichtigten, brachten dennoch manchmal den Text der Schlagzeilen von Wandzeitungen mit, die sie in der Fabrik gesehen hatten. Steigerte sich der Konflikt im kommunistischen Apparat weiter, tauchten die Wandzeitungen schließlich auch außerhalb der Universitäten auf. Nun waren sie für jeden sichtbar an den Außenwänden der Häuser angebracht.
Im Sommer 1974 begann mitten in Peking, gegenüber der Stadtverwaltung, dem sogenannten Revolutionskomitee, eine für uns Ausländer schwer verständliche Wandzeitungskampagne, in der sich die innerparteilichen Konflikte zu spiegeln schienen. Unterzeichnet von sechs Arbeitern aus sechs verschiedenen Fabriken, behauptete die erste, plakatgroße Zeitung: »Es gibt schwarze, konterrevolutionäre Gruppen in der Hauptstadt, und sie folgen einem schwarzen Kurs. Sie sind bestrebt, die revolutionären Rebellen zu unterdrücken und die Errungenschaften der Kulturrevolution abzuschwächen.« Diese Wandzeitung war zwar am nächsten Tag abgerissen worden, aber nun hing da eine andere, die von »zwei Frauen aus der kommunistischen Partei« unterschrieben war und in der zu lesen stand, die leitenden Genossen wollten die Kulturrevolution rückgängig machen. Auf einem anderen Plakat unterstützte ein Mann, der sich als altes Parteimitglied bezeichnete, die beiden Frauen. Acht Arbeiter einer Pekinger Baugesellschaft wiederum beklagten, in ihrem Betrieb würden die führenden Anhänger der Revolution verfolgt und sie hätten überdies ein Jahr lang keinen Lohn erhalten. Ein Arbeiter aus einer Werkzeugmaschinenfabrik beschrieb, dass die Kulturrevolution in seiner Fabrik nur noch formales Gerede sei und ihre Anhänger längst unterdrückt würden. Die Leitung der Fabrik habe sie in mehr als tausend Wandzeitungen kritisieren lassen und die Bewegung abgewürgt, so dass in der Fabrik nur noch Stille und Einsamkeit herrschten. Zwar meldeten sich hier vor dem Revolutionskomitee nur Verfechter kulturrevolutionärer Errungenschaften zu Wort, aber mit ihren Klagen zeigten sie doch, dass sie mancherorts in großen Schwierigkeiten steckten und ihre Gegner stärker waren als sie.
Auch Arbeiter aus anderen Provinzen klebten an den Häusern nahe der Stadtverwaltung Wandzeitungen an. Manche ihrer Beschwerden waren ziemlich persönlicher Art und gaben Einblicke in Aspekte des chinesischen Lebens, die Fremden sonst verborgen blieben. Sie erlaubten es uns Ausländern, gelegentlich einen Blick auf die Spannungen und Auseinandersetzungen hinter den Kulissen der politischen Reden und Leitartikel zu werfen. So protestierte eine Frau aus Sichuan, man habe ihr verboten, ihre Klagen in der Hauptstadt aufzuhängen. »Ich war 329 Stunden im Gefängnis Nr. 2 eingesperrt. Ich musste alle möglichen Beleidigungen, illegalen Handlungen und Schläge ertragen. Ich musste mich bei einer Untersuchung ganz ausziehen, und die Vertreter des Büros für öffentliche Sicherheit untersuchten jeden Teil meines Körpers, sogar meine Haare und meinen Hintern. Ich bin eine Bürgerin der Volksrepublik China und gemäß der Verfassung habe ich das Recht, die Abteilung für öffentliche Sicherheit anzuzeigen. Sie haben mein Geld und meine Getreidecoupons beschlagnahmt, 22 Yuan und Marken für vier Kilo Getreide. Sie haben versprochen, dass ich alles zurückbekomme, aber ich habe nichts zurückerhalten. Ich musste unterschreiben, dass sie alles zurückgegeben haben, sonst hätten sie mich nicht freigelassen. Sie haben auch die Materialien beschlagnahmt, mit denen ich unsere Klagen belegen wollte. Diese Papiere waren der Beweis, dass es in der Provinz Sichuan Machthaber gibt, die den Kapitalismus wiederherstellen wollen.«
Eine Woche lang waren die Hauswände in der Nähe des Pekinger Revolutionskomitees voll von solchen Mitteilungen. Einige von ihnen schienen zu politischem Widerstand gegen die Regierung aufzurufen. Andere enthielten persönliche Beschwerden und lasen sich wie Leserbriefe in westlichen Zeitungen. Manche hingen einige Tage lang, andere wurden noch in der Nacht entfernt. Immer standen Menschenmengen vor den Plakaten, aber sie kommentierten vorsichtshalber eher die Qualität der Schriftzeichen als den Inhalt. Die meisten Leser schwiegen zwar, aber es gab stets Leute, die
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