Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
gegolten, die drei Schätze, die ein Mann mit in die Ehe bringen müsse, seien eine Armbanduhr, eine Nähmaschine und ein Fahrrad. In den neunziger Jahren nannten Chinesen auf dem Lande einen Farbfernseher mit Karaokeanlage, ein Motorrad und eine große Schrankwand als die begehrten Schätze. Aber von so etwas redeten die Leute von Hua Xi schon nicht mehr. Sie fühlten sich als Kommunisten, freilich in einer anderen Kategorie als die Leute, die für sie arbeiteten. Ebendas gehörte zu dem China, das ich bei jedem Besuch anders erlebte, und jedes Mal wurden die Veränderungen uns Ausländern als ganz normale Weiterentwicklung vorgestellt.
Zehntausend Besucher kamen in den sechziger und siebziger Jahren täglich in das Dorf Shaoshan zu dem einstöckigen Haus am Lotusteich, in dem Mao Tsetung geboren wurde. Wie in Marschkolonnen zogen sie durch das Bauernhaus, das zum Nationaldenkmal gemacht worden war. Bis heute besuchen Touristengruppen diesen Ort, wobei sie die romantische Landschaft genauso anzieht wie Maos Geburtshaus. Auch 1998 , bei meinem letzten Besuch in Shaoshan, knipsten die Menschen einander vor dem Lotusteich, doch inzwischen erstarrten sie nicht mehr in Ehrfurcht, und der eine oder andere trug ein T-Shirt mit dem Bild Maos, einfach weil er es schick fand. Daran, was sich während der Kulturrevolution ereignet hatte, erinnerten sich die meisten Besucher nur ungenau. Das sei ja vor seiner Geburt gewesen, sagte mir einer, und seitdem sei es in China besser geworden. Ein Student der Volkswirtschaft warf dagegen ein, Maos Kulturrevolution sei eine Katastrophe für China gewesen und habe Wirtschaft und Bildung um zehn Jahre zurückgeworfen. Gut, dass das vorbei sei, meinte er und kaufte dann für sich und seine Freundin zwei Mao-Abzeichen als Reiseandenken. Ein Mann wollte seiner Frau Maos Geburtshaus zeigen und erzählte, wie die Chinesen vierzig Jahre zuvor hierhermarschiert seien, um den großen Führer anzubeten. Heute komme er wieder wegen der Erinnerung an seine Jugend, sagte er. Die jungen Leute dagegen seien aus Neugierde hier, nur zum Vergnügen, weil sie in der Nähe Urlaub machten. Ein älterer Mann, ein Lokalpolitiker aus einer anderen Provinz, wollte sich am liebsten nicht äußern. Er sei auf Reisen und wolle sich nur einmal Maos Geburtshaus anschauen. »Das ist ein Stück Kulturgut, das Geburtshaus des Vorsitzenden«, sagte er. »Die Kulturrevolution hatte ihre guten und ihre schlechten Seiten.« Er hatte keine große Lust, etwas über Maos historische Bedeutung für China zu sagen, sondern meinte nur: »Für die politische Bewegung war die Kulturrevolution gut.« Als ihm seine Frau widersprach, verbesserte er sich: »Na ja, im Rückblick muss man sagen: Es war doch übertrieben, wie sie damals die Parteifunktionäre totgeschlagen haben. Es war doch ein Fehler, das muss man schon sagen.«
Jedenfalls ließ sich Maos Name noch immer nutzen: Am Lotusteich gleich nebenan lag das »Mao-Familienrestaurant«. Frau Tang, die das Restaurant aufgemacht hatte, war zwar bloß eine angeheiratete Mao, aber sie hatte sich erklären lassen, wie man die Lieblingsgerichte des Großen Vorsitzenden kocht – lauter scharfe und fette Speisen. Frau Tang ging es jetzt viel besser als zu Lebzeiten Maos, als sie noch eine arme Bäuerin gewesen war. An der Wand hing ein Foto, das zu ihrem Stammkapital gehört: Mao auf Besuch in seinem Heimatdorf bei seinen Verwandten. Die Frau mit dem Kind auf dem Bild ist Frau Tang. Tausende dieser Fotos hat sie in Umlauf gebracht, denn der tote Vorsitzende, so fand sie, mache gute Reklame für ihre Kette von elf Mao-Familienrestaurants. Die liefen so erfolgreich, dass sie inzwischen stellvertretende Vorsitzende der Handelskammer von Shaoshan war.
Das kleine Rote Buch und andere Schriften Maos scheinen heute schon wieder fast vergessen. Die Werke des Konfuzius, die in den Kampagnen der Kulturrevolution verspottet und verurteilt wurden, lebten dagegen in den neunziger Jahren wieder auf. Qufu, Geburtsstadt des Konfuzius in der Provinz Shandong, war allerdings 1998 auch eher ein Tourismuszentrum als ein Ort der Verehrung und des Nachdenkens. Im Hotel konnte ich ein buntes Wägelchen in altchinesischem Stil mieten, was ein paar Jahre zuvor noch verboten gewesen wäre. Der Mann, mit dem ich dann durch die Stadt fuhr, hieß Herr Kong. Er war ein Nachkomme des großen Philosophen und Sittenlehrers und stammte in der 75. Generation von dem alten Meister ab. Die Europäer hatten dessen Namen
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