Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
einzelne Textpassagen abschrieben, vielleicht um sie selbst für Wandzeitungen in ihren Fabriken und Schulen zu verwenden. Die zwei Frauen, die eine der ersten Zeitungen an die Wand geklebt hatten, brachten schließlich eine Fortsetzung. »Gestern Mittag kamen wir zwei Genossinnen hierher, um ein Plakat zur Unterstützung der anderen Genossen aufzuhängen. Wir wollten sie an das Eisentor gegenüber dem Gebäude des Revolutionskomitees kleben. Wir wussten nicht, dass dieses Tor der Eingang zu einem Club ist, in dem einige führende Genossen sich erholen und schwimmen gehen. Wir wussten auch nicht, dass wir ihre Würde verletzten, aber man sagte uns, dass wir die leitenden Genossen stören würden, und mehrere Männer kamen heraus, um die Plakate abzureißen. Sie hatten den Befehl, uns zwei Frauen zu schlagen. Sie verletzten uns an den Armen, die Finger von einer von uns sind noch geschwollen. Dann öffneten sie das Tor, brachten einen Schlauch und bespritzten uns mit Wasser. Wir waren total nass und konnten kaum atmen.«
Was hinter dem Streit um die Wandzeitungen steckte, ließ sich zwar meist nicht genau beurteilen, aber sie vermittelten doch einen lebhaften Eindruck von den Konflikten innerhalb der chinesischen Gesellschaft. Die Chinesen selbst konnten die Zusammenhänge besser einordnen oder auch mit vertrautesten Freunden oder Verwandten vorsichtig darüber sprechen. Zuverlässige Schlüsse über den Stand der Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen Parteiführung konnten freilich auch sie nicht ziehen.
Am 28. März 1976 entdeckte ein englischer Diplomat aus dem Fenster seines Zuges auf dem Weg von Shanghai nach Peking dicht neben den Gleisen ein großes Plakat. Es war so aufgestellt worden, dass die Reisenden es nicht übersehen konnten: »Ehret das Andenken der Revolutionsmärtyrerin Yang Kaihui.« In dieser Zeit des Jahres waren Spruchbänder zum Andenken an die Märtyrer von Revolution und Bürgerkrieg eigentlich nichts Überraschendes, denn die Woche des Qingming-Festes stand bevor, in der die Toten und besonders die Opfer des revolutionären Kampfes geehrt wurden. Der Engländer war jedoch ein Kenner der chinesischen Revolutionsgeschichte, und der Name auf dem Plakat elektrisierte ihn. Yang Kaihui war die zweite Frau Mao Tsetungs gewesen, bevor sie 1930 von Gegnern der chinesischen Kommunisten hingerichtet worden war. In einem von Maos Gedichten findet sich eine bewegende Huldigung an sie. Dann aber hatte man ihren Namen während der Kulturrevolution aus den erklärenden Fußnoten zu Maos Gedichten entfernt. Was bedeutete es nun, wenn Maos zweite Frau gerade in einem Augenblick geehrt wurde, an dem seine derzeitige Frau Jiang Qing an politischem Einfluss gewinnen wollte? War das ein Protest gegen Jiang Qing und ihre Kulturrevolutionäre?
Der englische Diplomat, der das Plakat sorgfältig studiert hatte, gab uns ausländischen Journalisten diese Fragen weiter. So suchten wir nun nach Hinweisen und Anhaltspunkten auf den Transparenten von Jungkommunisten oder bei Schulklassen, die in der Woche des Qingming zum Platz des Himmlischen Friedens im Zentrum Pekings marschierten. Hier geschah zunächst nichts Ungewöhnliches: Die jungen Leute legten Kränze aus Papier und Blumen zu Ehren der Opfer des revolutionären Kampfes am Fuß des Märtyrerdenkmals nieder, sangen die »Internationale« und hörten mit erhobener Faust zu, wie ihre Redner einen Ergebenheitsschwur an die chinesische kommunistische Partei verlasen. Dann aber lehnte am 30. März ein Kranz mit dem Bild des Ministerpräsidenten Zhou Enlai an der Vorderseite des Denkmals. Das ließ uns aufmerken.
Zhou Enlai war drei Monate zuvor mit 77 Jahren gestorben. Der geachtete und bewunderte Ministerpräsident hatte jahrelang Stabilität und Kontinuität im revolutionären Prozess garantiert und galt vielen Chinesen als der einzige Mann, der Konflikte durch geduldige Verhandlungen zu lösen vermocht und Verständnis für die Sorgen der Intellektuellen wie der einfachen Leute bewiesen hatte. Für die meisten Chinesen umgab ihn eine Aura intellektueller Eleganz, verbunden mit selbstloser Hingabe für den revolutionären Fortschritt. Unmittelbar nach seinem Tod waren Tausende von Menschen weinend und schluchzend auf dem Tiananmen-Platz zusammengekommen. In der Stadt selbst aber waren keine Trauerdekoration in Schaufenstern und keine Fahnen vor den Häusern erlaubt. Nur vor dem Palast des Volkes, am Außenministerium und an den wichtigsten
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