Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
einst in »Konfuzius« verwandelt, nachdem deutsche und französische Philosophen des 18. Jahrhunderts ihn als großen Denker und Moralisten entdeckt hatten. In den Augen der meisten jüngeren Chinesen war Konfuzius dann nur noch ein Reaktionär gewesen, der in Maos Kulturrevolution bekämpft werden musste. Herr Kong fuhr mit mir zur großen Tempelanlage, wo seine Ahnen schon vor zweieinhalbtausend Jahren gelebt hatten. Seitdem waren die Tempel von Qufu ein zentraler Ort der chinesischen Kultur und Zivilisation gewesen, immer wieder erweitert, manchmal zerstört, schließlich wieder aufgebaut, bis die Rotgardisten die Tempel besetzten und die uralten Steintafeln zerschlugen. Sie wollten den Chinesen das konfuzianische Denken austreiben und es durch die Lehren von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao ersetzen. Nun waren die Konfuziustempel wieder geöffnet, aber Konfuzius’ Platz im chinesischen Denken war immer noch unsicher: Weder kommunistische Kulturrevolutionäre noch kapitalistische Industrielle konnten mit seinen Lehren viel anfangen. Ich fragte Herrn Kong, was die konfuzianischen Werte, von denen im Westen noch oft gesprochen werde, für die neukapitalistischen Chinesen von heute bedeuten könnten. »Die Ideen und Lehren des Konfuzius haben das Denken unserer Gesellschaft zweieinhalbtausend Jahre beeinflusst. Deshalb glauben auch jetzt viele Leute, besonders unter den jungen Studenten, an die Lehren und Richtlinien des Konfuzius«, meinte Herr Kong. In der Zeit der Kulturrevolution hatten nur seine engsten Verwandten von seiner Herkunft wissen dürfen, aber nun brauchte er sie nicht mehr zu verstecken. Der Wald der Familie Kong, in dem alle männlichen Nachfahren seit zweieinhalbtausend Jahren begraben wurden, war immer noch da, ebenso der runde Hügel, unter dem der Meister Kong einstmals sein Grab gefunden hatte. Die wilde Wut der proletarischen Kulturrevolution hatte das Grab für einige Jahrzehnte verschüttet, aber nicht zerstört.
Ich sah die jungen Studenten, die nach dem Examen ernst vor dem Tempel des Konfuzius standen, und fragte mich, wie sie künftig wohl angesichts uralter chinesischer Tradition, kommunistischer Lippenbekenntnisse und eines neuartigen kapitalistischen Erfolgsstrebens ihr modernes China bauen würden.
Wir Ausländer hatten Mitte der siebziger Jahre so gut wie keinen Einblick in die innerparteilichen Auseinandersetzungen, die meist in »Parteichinesisch« und anhand scheinbar abgelegener Themen ausgetragen wurden – wie etwa Jiang Qings Kampagne gegen die Sittenlehre des Konfuzius und die Musik Beethovens. Auf welche Weise die inneren Machtkämpfe des Regimes verlaufen waren, konnten wir meist erst dann genauer erkennen, wenn die eine Seite gesiegt hatte und die angeblichen Verfehlungen der anderen Seite verurteilte. Die Konfliktlinien waren keineswegs eindeutig, aber im Kern ging es bei den Auseinandersetzungen stets um die Gegensätze zwischen den sowjetisch-bürokratisch geprägten Funktionären der Parteihierarchie, den von Mao angetriebenen, meist jüngeren Kämpfern der Kulturrevolution und den Vertretern einer reformorientierten Wirtschaftspolitik.
Wir konnten nur versuchen, das Kunstchinesisch der kommunistischen Politiker zu übersetzen, das freilich in Zeiten innerer Konflikte mehr der Tarnung als der Erklärung diente. Zwar trafen wir uns in kleinen Kreisen befreundeter Journalisten und Diplomaten und tauschten aus, was wir gehört hatten, aber die Informationen und Erkenntnisse blieben bruchstückhaft und widersprüchlich. Den normalen Chinesen erging es nicht viel anders, wenn sie mehr über die großen Kampagnen erfahren wollten, die die Lager in der Parteispitze gegeneinander führten und die zeitweise in ihrer Schärfe fast einem verdeckten Bürgerkrieg glichen. Die Menschen bemühten sich, aus Zeitungsartikeln und Schulungsmaterial herauszulesen, ob gerade die radikale Fraktion mit Maos Frau die Oberhand gewann oder ob die Funktionäre um Ministerpräsident Zhou Enlai mit ihrem Modernisierungskurs wieder stärker dastanden. Ein Echo dieser Machtkämpfe erreichte uns über Zeitungen aus anderen Teilen des Landes, etwa aus Shanghai, wo stets schärfere kulturrevolutionäre Töne angeschlagen wurden als in Peking oder in anderen Provinzen.
Immer wenn sich der Konflikt zuspitzte, verlagerte sich der Propagandakampf aus der offiziellen Presse in die sogenannten Wandzeitungen. Sie hingen in der Regel zuerst in den Höfen der Universität, wo sie auch die wenigen
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