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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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gegenüber waren die Menschen zu diesem Zeitpunkt noch immer freundlich gesinnt, aber nun war es uns nicht mehr möglich, nahe genug an den Kern des Geschehens heranzukommen. Gegen zehn Uhr entstanden auch am Rande des Platzes einzelne Keilereien. Plötzlich waren viele Polizisten da, die anfangs nur zuschauten. Sie zerrten einen Mann fort. Uns Ausländer versuchten sie höflich, aber entschieden, zu vertreiben.
    Am frühen Morgen des 5. April war der Platz zunächst leer, von Stunde zu Stunde aber strömten immer mehr Menschen herbei und sammelten sich um das Denkmal. Die Milizangehörigen hielten sich zurück, während sich der Platz immer weiter füllte. Die Stimmung wurde unruhiger und angespannter. Ich stand um etwa 10 Uhr in der Menge an der Treppe zur Großen Halle des Volkes, als mich einige ältere Männer misstrauisch betrachteten und etwas zueinander sagten. Ich versuchte, langsam und möglichst unbemerkt auf die andere Seite der Großen Halle zu gelangen. Doch die Männer zeigten mit dem Finger auf mich und sprachen einige Studenten an. Die Situation schien gefährlich zu werden, aber dann sah es doch so aus, als würden sie mich gehen lassen. Am Seiteneingang standen drei Soldaten in Uniform und mit aufgepflanztem Bajonett vor einer Gruppe von jungen Männern, die offenbar in das Gebäude eindringen wollten und sich Schritt für Schritt die Treppe hochschoben. Die Soldaten verschwanden hinter der Tür und kamen ohne ihre Waffen zurück. Als sie sich wieder aufstellen wollten, schnappten sich vier Studenten einen von ihnen und zogen seine Uniformjacke herunter. Die beiden anderen Soldaten versuchten zu fliehen, wurden aber sofort umzingelt. Ich stand dreißig Meter entfernt und überlegte, in welche Richtung ich am besten entkommen könnte. Da deuteten die älteren Männer erneut auf mich, und junge Studenten eilten auf mich zu. Ich versuchte so schnell wie möglich in Richtung chinesische Staatsbank zu verschwinden, deren Eingang stets von bewaffneten Polizisten geschützt wurde. Aber wenige Meter vor meinem Ziel holte mich die Studentengruppe ein und drückte mich an die Hauswand. Einer von ihnen verlangte, dass ich den Fotoapparat hergab, doch ich konnte mich in der drängenden Menge nicht rühren. Inzwischen hatten sich vierzig bis fünfzig junge Leute angesammelt. Sie verstanden nicht, was vor sich ging, und schoben sich aus Neugierde immer näher heran. Schließlich gelang es mir, den Film aus der Kamera zu ziehen. Die Männer, die am nächsten standen, streckten den abgerollten Film als Siegeszeichen in die Luft. Eine halbe Minute lang schwenkten sie ihn herum, ohne auf mich zu achten. Ich nutzte den Moment der Unaufmerksamkeit und schob mich an der Wand entlang und an den Wachposten vorbei in den Eingang der Bank. Zwei der Angestellten schlossen die Tür hinter mir und brachten mir auf den Schreck hin ein Glas Wasser.
    Eine halbe Stunde später hatte sich die Menge wieder verlaufen, und niemand kümmerte sich um mich, als ich zurück auf den Tiananmen-Platz ging. Gegen Mittag stieg am Rande des Platzes eine gelbliche Rauchwolke auf. Ein halbes Dutzend junger Männer kam aus der Nähe eines brennenden Autos gerannt, sprang auf einen Lastwagen und fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon. Dann kamen zwei Feuerwehrfahrzeuge, die zum Brandherd wollten. Die Feuerwehrleute mussten sich regelrecht gegen die Menge verteidigen. Halbwüchsige zogen an den Schläuchen, rissen an den Jacken der Männer, warfen Helme in die Luft und kletterten auf dem Löschzug herum. Nach einiger Zeit ließen die Feuerwehrleute den schwelenden Wagen zurück, weil sie nichts ausrichten konnten, und wollten den Platz verlassen, aber da wurden sie von einer Menschenmenge umringt und angehalten. Nicht weit davon entfernt kippten die Menschen einen Minibus um. Ein Trupp Soldaten kam vom Historischen Museum angerannt und postierte sich zwischen dem Minibus und der Polizeistation gegenüber. Die Menge zog sich zunächst eilig zurück; als die Leute dann aber merkten, dass die Soldaten nur Stellung bezogen hatten, näherten sie sich wieder dem Minibus. Unter den Bäumen am Rande des Platzes gab es eine Explosion. Ein weiterer Wagen ging in Flammen auf, dann brannte auch der umgestürzte Minibus.
    Gelegentlich wurden Ausländer umdrängt und aufgefordert zu verschwinden. Ein Diplomat hob die Arme und rief: »Ich ergebe mich.« Die Menschen lachten und schoben ihn fort. Andere wurden von Polizisten in Zivil angehalten und nach ihrer

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