Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Regierungsgebäuden durften Fahnen auf halbmast gesetzt werden, und Studenten, die an der Universität die chinesische Fahne aufgezogen hatten, wurden verwarnt. Manche Pekinger schmückten Zhous Bilder zu Hause oder in den Büros mit schwarzer Gaze und fügten handgeschriebene Bekenntnisse zum Ministerpräsidenten an die Wand. Einige, so hörten wir, hätten sogar Mao-Porträts abgehängt.
Nun schien die Woche des Qingming-Festes ohne jede Ankündigung und propagandistische Vorbereitung zur Woche der Ehrung Zhou Enlais zu werden. An der Südseite des Märtyrerdenkmals versammelten sich am 30. März zunächst zwanzig oder dreißig junge Leute und legten Kränze für den verstorbenen Ministerpräsidenten nieder. Ein Mädchen verlas eine Lobrede, dann trat ein anderer Student mit einer Ansprache vor. Mehrere Stunden lang priesen sie den Ministerpräsidenten. Andere holten Notizbücher und Bleistifte heraus, um festzuhalten, was am Fuß des Denkmals gesagt wurde – vielleicht um es mit nach Hause zu nehmen oder in Schulen und Fabriken bei Versammlungen zu verwenden. In einiger Entfernung vom Denkmal kamen nach und nach auch Arbeiter zusammen. Ein älterer Mann sprach ruhig, aber mit starkem Gefühl über Zhou Enlai: »Sein Leben war selbstlos der Befreiung des chinesischen Volkes gewidmet. Wenn sein Leben jetzt kritisiert werden soll, wie werden wir dann weiterleben?« Ich spürte einen Ton des Trotzes in seiner Rede. Dieser Ton fand sich auch in den Sprüchen und Gedichten wieder, die Studenten am Fuß des Denkmals ablegten. Sie lasen die Texte laut vor und erklärten die komplizierten Schriftzeichen. Deren Bedeutung war für uns Ausländer kaum zu verstehen, doch es ließ sich erraten, dass sie sich gegen die radikale Gruppe in der Parteiführung richteten. Dann aber fand ich am Fuß des Denkmals zwischen den vielen Plakaten und Zetteln einen Satz, dessen Sinn auch ich entschlüsseln konnte: »Wir haben hier viele Kränze gesehen, aber keinen Kranz aus dem Nordwesten.« Im Nordwesten des Platzes lag Maos Haus.
Gerade weil keine offene und scharfe politische Kritik gegen Mao und die Gruppe um seine Frau gerichtet wurde, trauten sich die Menschen in den folgenden Tagen zu Tausenden auf den Platz im Herzen Pekings und bekundeten ohne Worte ihren Respekt für den toten Ministerpräsidenten. Die Stimmung schien entspannt, ganze Familien kamen mit Großmüttern und Kleinkindern und bildeten eine endlose Prozession durch die immer länger werdenden Reihen von Kränzen und Plakaten. Ich merkte, dass die Menschen diesmal nichts dagegen hatten, wenn sich Ausländer unter sie mischten. Sie halfen uns sogar beim Übersetzen und Abschreiben der Texte, begannen freundliche und neugierige Gespräche. Einige Tage später, am 2. April, marschierte eine Gruppe von Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften feierlich auf den Platz. Junge Leute halfen ihnen, einen Kranz mit einem Gedicht ganz oben auf das Märtyrerdenkmal zu heben. Zuerst kam uns das Trauergedicht recht traditionell vor. Aber als wir abends mit einigen Journalisten und Chinaexperten zusammensaßen und die vielen Texte analysierten, begannen wir zu verstehen, dass die Akademiker in diesem Gedicht durch eine sehr subtile Veränderung einzelner Schriftzeichen Vorwürfe gegen Maos Frau und ihre Verbündeten erhoben hatten.
Am 3. und 4. April, einem Samstag und einem Sonntag, strömten insgesamt bis zu 100 000 Menschen auf den Tiananmen-Platz. Der Protest war immer noch gewaltlos, doch mittlerweile reagierten die Menschen gereizter auf die wiederholten Versuche der Polizei und der Milizionäre in Zivil, sie zu vertreiben. Die Lage spitzte sich zu, und es kam zu ersten Schlägereien. Offenbar versuchten radikale Studenten oder Rotgardisten, die Masse der ruhigen Demonstranten zu provozieren. Am Sonntagabend waren südlich vom Denkmal plötzlich Sprechchöre zu hören. Studenten riefen: »Wir sind für Ministerpräsident Zhou und gegen Franco. Wir sind für Freiheit und Demokratie, gegen Faschismus. Wir wollen keine schmutzige Kaiserin.« Die Aussagen waren unmissverständlich, mit der Kaiserin konnte nur Maos Frau gemeint sein. Als es zu dämmern begann, kamen weitere Plakate und Sprechchöre hinzu, die offen Zhou Enlai ehrten und unverhohlen Maos Frau attackierten. Noch um neun Uhr abends harrte eine große, erregte Menge im trüben Licht der großen Laternen auf dem Platz aus. Dann merkten wir, dass einige Chinesen in der Menge aufeinander einschlugen. Ausländern
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