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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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Reisegenehmigungen zu bekommen versuchte.
    So lebten wir Ausländer mit unseren chinesischen Mitarbeitern durchaus freundlich nebeneinander, ohne etwas Genaueres über das Leben der anderen zu wissen. Dazu kam eine eigenartige Schwierigkeit: Die Antworten und Erklärungen, die ich bei einem Besuch erhielt, konnten bei der nächsten Begegnung schon völlig anders klingen und selbst mit zeitgeschichtlichen Fakten konnte es einem so ergehen – als wäre die Erinnerung an unpassende Ereignisse aus den Gehirnen wie weggewischt. So ist es mir bei manchen Wiederbegegnungen auf Reisen durch die chinesische Provinz ergangen, die ich in den folgenden zwei Jahrzehnten unternommen habe.
    Als ich 1976 das erste Mal das Dorf Hua Xi, 150 Kilometer nördlich von Shanghai, besuchte, war die politische und militärische Erziehung der Stolz der Gemeinde. Die Bauernfamilien, die hier lebten, kannten für Chinesen schwer auszusprechende Namen wie Marx und Engels, Dühring und Lassalle und hatten gelernt, dass Marx immer recht hatte. In den Regalen der kleinen Bibliothek standen die Standardwerke von Lenin und Stalin neben den Schriften Maos, dazu kleine Broschüren, die wie Comics illustriert waren, aber über historische und aktuelle politische Ereignisse berichteten. Es gab sieben Stunden politischen Unterricht in der Woche und zusätzlich Vorträge während der Pausen bei der Feldarbeit. Die Frauengruppen hatten darüber hinaus eigene Treffen für politische Schulung und militärische Ausbildung. Neunundzwanzig Kämpferinnen der Volksmiliz bauten sich für mich zu einer Kolonne auf. Eine fünfundzwanzigjährige Frau befahl ihnen, über den Hof zu marschieren und Nahkampf zu üben. »Der Klassenkampf ist nicht vorbei«, sagte der stellvertretende Kommunenvorsitzende Wu. »Wir müssen immer auf der Hut sein vor reaktionären, konterrevolutionären und kapitalistischen Tendenzen.«
    Als ich zweiundzwanzig Jahre später wieder nach Hua Xi kam, sprach man immer noch von einem Dorf, aber mittlerweile ragten viele Fabrikschornsteine auf. Die Neubauten sahen nicht nach den üblichen Unterkünften chinesischer Bauern aus, und das Haus, in dem man mich bei meinem ersten Besuch untergebracht hatte, war nicht mehr das schönste, sondern eines der schäbigsten. Die Bauernfamilie, bei der ich damals gewohnt hatte, war ausgezogen, und nun diente das Haus als Unterkunft für Wanderarbeiter, die aus anderen Provinzen Chinas nach Hua Xi gekommen waren. Siebentausend Arbeiter, Techniker und Ingenieure arbeiteten in Fabriken und Werkstätten, die sich im Gemeinschaftseigentum der Bauernfamilien befanden. Frau Chao, die mich beim ersten Besuch als meine Gastgeberin empfangen hatte, war inzwischen zur Direktorin einer Fabrik für Stahlröhren aufgestiegen. Auch diese Fabrik gehörte zum Gemeinschaftseigentum der Bauernkommune. Von dem neuen Haus, in dem Frau Chaos Familie lebte, hätte bei meinem ersten Besuch niemand zu träumen gewagt: 450 Quadratmeter Wohnraum, so viel, dass in einigen der Räume gar keine Möbel standen. Auch Frau Chaos Mann hatte als Chef des Hotelrestaurants einen guten Posten. Gut zwanzig Jahre zuvor war das Essen viel einfacher gewesen als das, was Frau Chao mir nun auf ihren Banketttisch im Esszimmer stellte. Wir Männer tranken ein Gläschen Maotai-Schnaps und stießen dann gemeinsam mit französischem Rotwein an. »Der Osten wird rot«, toastete Frau Chao. Diesen Mao-Spruch vergesse sie nie. Das Dorf besaß nun ein Hotel, zehnstöckig und in Form einer Pagode, ein Anziehungspunkt für reiche Leute oder für verdiente Arbeiter aus den Industrievierteln Shanghais. Mir hatte man die Präsidentensuite reserviert, 400 Quadratmeter groß und mit zwei hochmodernen Badezimmern ausgestattet. Als alter Freund bekam ich sie zum Sonderpreis, umgerechnet 50 Euro pro Nacht. So viel verdiente ein Facharbeiter im Monat. Die Fabriken, die zum Gemeinschaftseigentum der Dorfbewohner gehörten, produzierten jetzt Wollstoffe, Aluminiumfenster, Schnaps, Zigaretten und Stahl. Im kleinen Erholungspark des Ortes war für jede Familie des Kollektivs eine Tafel errichtet, die den jeweiligen Besitz verzeichnete. Ich schaute nach, was meinen Gastgebern, der Familie Chao, gehörte: ein Sparguthaben von umgerechnet fast 100.000 Euro, zwei Fernseher, eine Klimaanlage, vier Badezimmer, Telefon, Waschmaschine, Motorrad und Fahrrad. »Jeder weiß, was jeder hat. Das ist Sozialismus«, sagte Frau Chao. Mitte der siebziger Jahre hatte hier noch die Devise

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