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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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Nationalität gefragt. »Wir wollen hier keine Sozialimperialisten«, sagte ein Polizist und meinte damit Bürger aus der Sowjetunion. Wenn ein Ausländer erklärte, er sei kein Russe, durfte er weitergehen. Ein sowjetischer Diplomat, der eine karierte Mütze trug und wie ein altmodischer englischer Tourist aussah, wurde von der johlenden Menge verjagt. Die meisten Chinesen kamen jedoch als Zuschauer und ließen die Ausländer ebenfalls zuschauen.
    Am Abend begannen schließlich Einheiten von Militärpolizei und Arbeitermilizen aus den großen Fabriken, die Straßen nördlich und westlich des Kaiserpalastes zu blockieren. Soldaten trugen Maschinengewehre heran, andere patrouillierten auf Motorrädern. Gegen 22 Uhr stürmten etwa tausend Milizionäre aus dem Tor des Himmlischen Friedens, liefen über den Platz und bildeten einen weiten Ring um das Märtyrerdenkmal. Ich zog mich an den Rand des Platzes zurück, aber auch da drängten sich Soldaten und Zivilisten. Die Menge am Denkmal wurde nur langsam kleiner, Reden wurden aber nicht mehr gehalten.
    Vom Rand beobachtete ich, wie Soldaten und Milizionäre Pekings Hauptstraße auf beiden Seiten des Denkmals abriegelten. Dann wurde es dunkel: Die Kandelaber wurden auf halbe Leuchtstärke geschaltet, die kriegerische Musik aus den Lautsprechern, die Soldaten wenige Stunden zuvor aufgestellt hatten, wurde lauter gestellt. Von den Seiten rannten fast tausend Soldaten und mehrere Tausend Arbeitermilizionäre mit großen Holzknüppeln auf das Denkmal zu. Ich konnte nicht genau erkennen, was dort geschah. Es sah aus, als würden jeweils Gruppen von dreißig oder vierzig Menschen von der Menge abgetrennt und über den Platz getrieben. Noch um ein Uhr nachts wurden Menschen abgeführt. Einige ausländische Journalisten und Diplomaten versuchten noch einmal, durch die Reihen der Soldaten zum Denkmal vorzudringen, aber keiner schaffte es auf die Terrasse. In der Südostecke des Platzes saßen viele Leute auf dem Boden, die nach und nach in kleinen Gruppen auf Lastwagen abtransportiert wurden. Wir Ausländer wurden mit eigenartiger chinesischer Höflichkeit behandelt. »Sie sollten jetzt nach Hause gehen und sich ausruhen. Es ist hier draußen zu kalt«, sagte eine Milizpatrouille zu mir. Als wir den Platz verließen, konnten wir auf dem Pflaster einige große Flecken erkennen, die wie Blut aussahen. Unter unseren Schuhen knirschte das Glas zerschlagener Fahrradlampen. Auf dem höchsten Absatz des Denkmals stand immer noch ein einzelner Kranz für Zhou Enlai.
    Der Kranz war auch am nächsten Morgen noch da, nachdem die Polizeiketten um den Platz schon abgerückt waren. Die Szenerie sah eigentlich aus wie immer: Gegenüber dem Tor des Himmlischen Friedens arbeiteten die Berufsfotografen wieder auf ihren hölzernen Plattformen, und chinesische Hauptstadtbesucher warteten geduldig in einer Schlange, um ein Erinnerungsfoto von sich machen zu lassen. Auf dem Platz standen nur vereinzelt kleine Gruppen von Männern und Frauen herum. Die Polizeistation lag inzwischen leer und ausgebrannt da, und vor ihr sammelte sich eine neugierige Menge. Vor dem Historischen Museum, das ein paar Hundert Demonstranten tags zuvor hatten stürmen wollen, wurde ein neuer transportabler Metallzaun errichtet. Soldaten forderten die Menschen zum Weitergehen auf. Eine junge Frau kam aus dem Ministerium und sprach beruhigend auf die Menge ein. Als sie zurückging, wurde der Zaun umgestürzt, aber die Leute wussten nicht mehr, was sie noch tun sollten. Einige sahen eine Gruppe von Ausländern und liefen auf sie zu, woraufhin die Ausländer in ihren Wagen sprangen und vorsichtig durch die Menge auf die Avenue zurückfuhren. Irgendwann kamen Arbeiter mit einem Kranz und versuchten vergeblich, ihn am Denkmal festzumachen. Viele Menschen applaudierten. Auch andere wollten noch Wandzeitungen am Denkmal anbringen, aber Polizisten in Zivil hinderten sie daran.
    Am Morgen des 7. April war der Tiananmen-Platz schließlich von so vielen Soldaten und Polizisten umgeben, dass kein normaler Bürger mehr zum Denkmal gelangen konnte. Bald lag der Platz still und menschenleer da. Eine Frauenbrigade erschien und begann, das Pflaster zu scheuern. Es sah aus wie eine rituelle Reinigung.
    In den folgenden Wochen versuchten wir ausländischen Journalisten gemeinsam mit Mitarbeitern der Botschaften, unsere Informationen und Eindrücke zu sammeln und auszutauschen. So viel schien uns klar: Dies war ein Protest gegen jene Parteiführer

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