Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Dies ist eine Verschwörung von Menschen, die schon verurteilt sind.«
Ein paar Stunden später waren zwischen Rotem Platz und Weißem Haus lange Panzerkolonnen stationiert. Die Soldaten saßen auf ihren Fahrzeugen und warteten auf Befehle. Immer mehr Zivilisten standen um sie herum, Abgeordnete des russischen Parlaments kamen heran und begannen mit ihnen zu sprechen. Die Offiziere blieben abweisend, die jungen Soldaten dagegen zeigten sich offener. Sie wussten nicht genau, wie sie sich verhalten sollten, wenn Gruppen von Frauen ihnen etwas zu essen und zu trinken brachten und manchmal fürsorglich, manchmal streng auf sie einredeten. »Weiß deine Mutter eigentlich, was du hier machst?«, fragte eine ältere Frau, die neben mir vor der Panzerkolonne mit ihrem Regenschirm herumfuchtelte. »Weiß deine Mutter, dass du auf deine eigenen Leute schießen sollst?« Und eine andere tadelte den Panzerkommandanten: »Schämen Sie sich, Genosse Oberleutnant. Warum sind Sie hier? Warum schützen Sie die Privilegien der Bonzen?« Er halte sich an seinen Soldateneid und führe nur Befehle aus, antwortete der Offizier. Da fielen die Frauen erst recht über ihn her. Was das für ein Eid sei, der Soldaten verpflichte, das eigene Volk zu bekämpfen und den Präsidenten zu verhaften. Der Offizier drehte sich um und ging. Einer der jungen Soldaten stand nun auf seinem Panzer. »Ich werde nicht« – er brach ab, schaute sich zu den Offizieren um und sagte dann: »Ich werde nicht … Ich werde nicht auf das Volk schießen.« – »Bravo!«, riefen die Frauen. »Ihr seid prima Kerle.« Die Offiziere taten, als hörten sie nichts.
Keiner wusste, wie es weitergehen würde. Verlässliche Informationen gab es nicht. Das zentrale Fernsehen sendete abwechselnd die Verkündigung des Putschkomitees und neutrale klassische Opernaufführungen. (Er habe Schwanensee übertragen lassen, sagte der stellvertretende Fernsehdirektor später zu mir, keine Märsche und Militärmusik, um zu zeigen, dass das Fernsehen keinen Putsch unterstütze.) Am späten Nachmittag schmuggelte ein Reporter einen aktuellen Bericht über die Menschen vor dem Weißen Haus ins Programm: Man sah die vielen Zivilisten, die dem Militär gegenüberstanden, und dann Boris Jelzin, wie er auf den Panzer stieg. Der Ton seiner Ansprache fehlte. Der kurze Filmbericht war schon über den Sender gegangen, ehe die Kontrolloffiziere vom KGB eingreifen konnten.
Nachmittags um fünf lud das Notstandskomitee, das in der Abgeschlossenheit des Kreml tagte, zu seiner ersten Pressekonferenz ein. Da saßen nun sechs der Männer, die den Präsidenten Gorbatschow für abgesetzt erklärt hatten. Als Erster sprach Gennadi Janajew, den Gorbatschow gegen großen Widerstand im Parlament als seinen Vizepräsidenten durchgesetzt hatte. Er verlas noch einmal den Aufruf des Komitees an das sowjetische Volk. Doch er trug den Text mit unsicherer Stimme vor, und seine Hände zitterten wie bei einem schweren Kater. Der Fernsehredakteur brachte diese zitternden Hände in Großaufnahme auf die Bildschirme des ganzen Landes. Dann wiederholte Janajew Vorwürfe, die unzufriedene Bürger schon lange gegen Gorbatschows Politik hervorgebracht hatten: Die Ordnung im Staat breche zusammen, der chaotische Übergang zur Marktwirtschaft habe den Lebensstandard gedrückt, die Zahl der Verbrechen nehme rapide zu, die Versorgungs- und Wohnungsprobleme müssten gelöst werden, und die Industrieproduktion müsse steigen. Doch die meisten Menschen, die über Gorbatschow geklagt hatten, wollten keineswegs zu solchen Vertretern des alten bürokratischen Systems zurück, zu Männern ohne Ausstrahlung und Autorität. Die Journalisten im Saal der Pressekonferenz wagten etwas, das es in Moskau so noch nicht gegeben hatte: Der berühmte Alexander Bovin stellte ironische Fragen, und seine Kollegen lachten zustimmend. Immerhin saßen ihnen der Vorsitzende des Verteidigungsrats der Sowjetunion, der Chef des KGB und der Innenminister gegenüber. Zwei andere wichtige Männer, der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister, waren zu der Pressekonferenz gar nicht erst erschienen.
Das Notstandskomitee hatte geglaubt, Gorbatschow kontrollieren und dirigieren zu können, weil es sich auf alle Machtinstrumente des Landes stützen konnte. Die Führung der Armee, der Einsatztruppen des Innenministeriums und der Polizei, der Antiterrorgruppen und des Geheimdienstes der Armee – sie alle hatten den Putschisten ihre Unterstützung zugesagt.
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