Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
der Luke. Dann ließen sie ihn laufen und in der Menge verschwinden.
Die meisten Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit gegenüber vom Weißen Haus stehenblieben, konnten sich nicht erklären, was da gerade geschah. Meinen Fragen wichen sie aus. Eine Frau sagte, es sei schlecht, dass Gorbatschow nicht mehr Präsident sei. Der Mann neben ihr staunte: »Was, Gorbatschow soll nicht mehr Präsident sein? Janajew ist doch nur Vizepräsident.« Die Entscheidung müsse vom Obersten Sowjet kommen, wenn es überhaupt einen Rücktritt Gorbatschows geben solle. Neben einem Lastwagen, dessen Motor streikte, standen Soldaten und winkten den Zuschauern zu. Ich fragte den Major neben der Kolonne, ob er wisse, dass Gorbatschow nicht mehr Präsident sei. »Wieso?«, fragte er zurück, »Gorbatschow ist auf Urlaub.« Und wer regiert? »Gorbatschow. Der ist und bleibt Präsident und kommt bald aus dem Urlaub zurück.« Ich wusste nicht, ob der Major wirklich nicht verstanden hatte, dass ein Notstandskomitee Gorbatschow abgesetzt hatte, oder ob er mich, einen Ausländer, täuschen wollte. Kinder auf dem Weg zur Schule fragten, was los sei, und hörten von mir, dass Gorbatschow gestürzt sei. »Gut, dass er weg ist«, sagte ein Junge. »Er hat die Perestroika angefangen, und jetzt ist alles durcheinander.« Eine Frau, die danebenstand, meinte: »Ich bin sehr froh. So, wie er unser Land geführt hat, gab es nichts mehr zu kaufen. Das hat bloß Aufstände und Unruhe gebracht.«
Um zehn Uhr fädelte sich eine Autokolonne durch den Stau aus Militärfahrzeugen, Omnibussen und Pkws. Boris Jelzin fuhr am Weißen Haus vor, im großen Regierungswagen, ganz offiziell mit Wimpel in den neuen weißblauroten russischen Farben. »Sollen sie doch versuchen, auf den rechtmäßig gewählten Präsidenten zu schießen«, sagte er zu seinen Begleitern, als ihn die Eskorte bis zu seinem Regierungssitz brachte. Und damit kletterte er auf einen der Panzer, ohne dass ihn die Soldaten zu stoppen versuchten. Sie hatten Befehl, das Weiße Haus zu umstellen, und konnten sich sicher nicht vorstellen, dass sie den Präsidenten Russlands vom Deck eines ihrer Panzer schießen sollten. Noch ehe sich die Führer des Putsches in Rundfunk oder Fernsehen zu Wort gemeldet hatten, rief Jelzin die Leute vor dem Weißen Haus zum Widerstand auf. Er verlangte, Gorbatschow, der von den Putschisten in seinem Urlaubsort auf der Krim festgehalten werde, unverzüglich nach Moskau zu bringen und vor dem Volk sprechen zu lassen. »Trotz aller Schwierigkeiten und der schweren Heimsuchungen, die das Volk erlebt, nimmt der demokratische Prozess im Lande weiter seinen Aufschwung und gewinnt unumkehrbaren Charakter. Die Völker Russlands werden die Herren ihres eigenen Schicksals«, rief er.
Während die staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender immer noch die Erklärung des Putschkomitees übertrugen, wurden gleichzeitig viele Abertausende von illegalen Rundfunksendern informiert, und einige Zeitungen ließen Aufrufe zum Widerstand drucken, ehe die Soldaten ihre Gebäude umstellen konnten. Zwar hatten manche Redaktionen in den Monaten zuvor Gorbatschow vorgeworfen, er wolle die Pressefreiheit einschränken und das Tempo der Reformen drosseln, aber dass die konservativen Funktionäre aus dem alten Apparat ihn absetzten, wollten sie erst recht nicht hinnehmen. In einer Seitenstraße hinter dem Moskauer Rathaus traf ich einen Freund: Anatoli Pankow, mit dem ich auf Sibiriens Flüssen im Kanu unterwegs gewesen war. Nun war er Chefredakteur der Moskauer Stadtzeitung Kuranty geworden. Er zeigte mir in seinem Büro die Notstands-Sonderausgabe Nummer 1. »Der Faschismus kommt nicht durch«, lautete die Bildunterschrift unter einem Foto, auf dem Moskauer Bürger vor Soldaten und Panzern zu sehen waren. Ganz oben auf der Seite stand ein kurzer, schnell hingeworfener Text: »Trotz unseres kritischen Verhältnisses zu Michail Gorbatschow, zu einigen seiner Handlungen und zur Form seiner Wahl – nicht durch das Volk, sondern durch die alten Volksdeputierten – haben wir ihn doch als Präsidenten der UDSSR akzeptiert. Was heißt nun, seine Vollmachten gehen an den Vizepräsidenten über, im Zusammenhang mit einer krankheitsbedingten Amtsunfähigkeit? Ist er erkältet? Nicht bei Sinnen? Warum gibt es keine offizielle Erklärung von ihm? Es ist klar, dass diese Bolschewiki alles auf eine Karte gesetzt und im Lande einen Staatsstreich unternommen haben. Aber man kann das Volk nicht in die Knie zwingen.
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