Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
einander zu, bis hin in die letzten Reihen, wo sich Frauen an einem Feuerchen wärmten. Es gab also Fallschirmjäger, die Jelzin gehorchten.
Aber es waren weder die Militärs noch die Politiker, die über den Ausgang der Kraftprobe entschieden. Es waren die zehntausend Menschen, die die Nacht vor dem Weißen Haus an kleinen Holzfeuern, auf Mänteln und Decken verbrachten. Manche lagen auf der Straße, um noch im Schlaf die Panzer aufhalten zu können. Auf der Kutusow-Brücke hatten einige Fahrer der städtischen Verkehrsbetriebe ihre Busse quer gestellt und die Luft aus den Reifen gelassen. Andere Busfahrer schlossen sich ihnen an, und die Passagiere, die auf dem Weg nach Hause waren, stiegen ohne Murren aus und gingen zu Fuß weiter. Manche kamen mit etwas zu essen zurück, entschlossen, die Nacht in den Bussen zu verbringen. Aber der Angriff, den sie erwartet hatten, blieb aus. Stattdessen kamen Moskauerinnen mit Thermoskannen, Brot und Konserven, um die Verteidiger des Weißen Hauses zu verpflegen, und nicht nur sie: Die armen Jungen in den Panzern wurden von den Frauen natürlich auch versorgt.
Am nächsten Morgen rollten die russischen Kameraleute und Tonassistenten bei uns im ARD -Studio ihre Schlafsäcke zusammen. Sie hatten auf dem Boden und unter den Schreibtischen geschlafen, nachdem sie fast vierundzwanzig Stunden lang ununterbrochen mit uns drei deutschen Korrespondenten, Thomas Roth, Hans-Josef Dreckmann und mir, unterwegs gewesen waren. Im Studio waren alle Mitarbeiter, vom Researcher bis zur Putzfrau, zu unbegrenzten Überstunden bereit. Ein deutscher Student brachte uns selbstgedrehtes Filmmaterial. Eine Studentin aus Deutschland, die heutige Moskau-Korrespondentin der ARD , Ina Ruck, klingelte an der Studiotür und bot an, zu helfen, wo sie konnte. Das sowjetische Fernsehen hatte seinen normalen Sendebetrieb eingestellt, worauf russische Kollegen uns fragten, ob sie uns helfen könnten. Auch Abgeordnete, die sonst kaum mit uns Kontakt hatten, waren bereit, sich mit Lagebeurteilungen und Stellungnahmen filmen zu lassen. Tatjana Mitkowa, die einige Wochen zuvor ihren Job als Moderatorin des täglichen Nachrichtenmagazins wegen allzu unabhängiger Kommentare verloren hatte, kam in unser Studio, um uns bei der Berichterstattung zu unterstützen. So gelangte die ARD auch an das einzige Interview, das Boris Jelzin in diesen Tagen gab. Tatjana Mitkowa hatte mich ins Weiße Haus mitgenommen, und die Wachposten hatten für sie hochachtungsvoll den Weg zum Präsidenten freigemacht.
Unter dem Fenster unseres Studios strömten immer mehr Menschen vorbei in Richtung Weißes Haus. Es kamen Väter mit Kindern auf den Schultern, alte Ehepaare, Schüler und Schülerinnen, die ihre Gitarren mitgebracht hatten. Russische Journalisten hatten in Untergrundsendern zur Demonstration aufgerufen, und so waren es gegen Mittag an die zweihunderttausend Menschen, die sich um das Weiße Haus versammelten. Sie riefen nach Boris Jelzin und schwenkten selbstgenähte russische Fahnen. An verschiedenen Punkten der Stadt standen nach wie vor Militärkolonnen, aber das Notstandskomitee hatte nicht die kleinste Demonstration zu seiner Unterstützung auf die Straße gebracht.
Mit Einbruch der Dunkelheit kehrte die Angst in die Stadt zurück. Noch immer standen die Panzer und Soldaten in Bereitschaft, nur wenige aus dem Militär hatten sich ausdrücklich zu Jelzin und gegen die Putschisten bekannt. Noch hatten die Führer des Staatsstreichs ihre Chance nicht völlig verspielt, noch war die Gefahr eines Bürgerkriegs nicht gebannt. Um Jelzins Weißes Haus standen die Menschen in disziplinierten, aber unbewaffneten Formationen unter der Anleitung ehemaliger Soldaten und Offiziere. In den Korridoren und Büros des Weißen Hauses gab es Abgeordnete, die Gasmasken und Maschinenpistolen austeilten, aber da waren auch viele Schriftsteller und Musiker, die mit ihrem Namen für die Demokratie eintreten wollten. Mstislaw Rostropowitsch, der weltberühmte Cellist, war nach den ersten Nachrichten vom Putsch aus Paris nach Moskau geflogen. Nun saß er im Vorzimmer des Präsidenten mit einer Kalaschnikow im Arm, neben ihm schlief ein Leibwächter aus Jelzins Bereitschaftspolizei.
Gegen Mitternacht schreckten uns Schüsse auf. Zum ersten Mal seit dem Beginn des Putschversuchs wurde geschossen. Aus dem Fenster unseres Büros konnten wir die Menge sehen, die sich zur Verteidigung des Weißen Hauses versammelt hatte. Dort wartete auch mein Kollege
Weitere Kostenlose Bücher