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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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Thomas Roth mit unserem Kamerateam. Die Menschen auf dem Platz schienen die Schießerei nicht wahrzunehmen, also mussten wir den Ort des Zusammenstoßes in der nächtlichen Stadt suchen. Slawa Makarow, ein russischer Tontechniker aus Leningrad, hatte gebeten, bei uns übernachten zu dürfen, und schlief auf dem Boden des Studios. Als er hörte, dass irgendwo geschossen wurde, war er sofort bereit, eine unserer Reservekameras zu nehmen und mit uns zu dem Ort der Schießerei zu fahren. Ich nahm dafür sein Tonaufnahmegerät. Meine Frau Irma trug Akkus und Kassetten. Slawa setzte sich ans Steuer unseres Dienstwagens, eines kleinen Ladas, in der Hoffnung, dass er damit nicht besonders auffallen würde. Wir fuhren durch die Nebenstraßen in Richtung Stadtzentrum, stritten uns mit den Polizisten, die uns nicht durchfahren lassen wollten, und suchten nach Straßen, die noch nicht gesperrt waren. Und plötzlich hatten wir viele Helfer: Taxifahrer leiteten uns bis auf hundert Meter an die Stelle, an der nach ihrer Kenntnis geschossen wurde. Als uns wieder ein Polizeikordon aufhalten wollte, bildeten zwanzig oder dreißig junge Männer, die unsere Kamera gesehen hatten, einen dichten Ring um uns. Wir liefen mit ihnen, so schnell wir konnten, an den Polizisten vorbei, die keine Kraftprobe mit unseren Beschützern riskieren wollten.
    Schließlich standen wir auf dem Gartenring am Fuß einer Brücke, mehrere Hundert Meter vom Weißen Haus entfernt. Vor uns junge Männer, viele von ihnen mit selbstgemachten Molotow-Cocktails in der Hand. Sie waren aufgeregt und wütend und umstanden ein Auto, in dem der erste Tote dieser Putschtage lag. Slawa Makarow drängte sich durch die Menge unmittelbar an den Wagen heran, um Großaufnahmen von dem Toten zu machen. (Später haben wir die Aufnahmen des entstellten, blutigen Gesichts nicht gezeigt.) Das Opfer und zwei andere Männer waren ums Leben gekommen, als sie die Panzerkolonne stoppten, die nun immer noch unter der Brücke stand. Sobald einer der Panzer herausfahren wollte, sprangen weitere junge Leute auf und warfen Wolldecken über die Sehschlitze, um den Fahrern die Sicht zu versperren. Molotow-Cocktails flogen durch die Luft. Ein junger Soldat kletterte aus seinem brennenden Panzer und schoss mit der Kalaschnikow wild in die Gegend. »Mörder, Mörder!«, riefen die Menschen auf der Straße nun den Panzerfahrern zu, die stundenlang unter der Brücke eingeschlossen waren. Schließlich kam ein russischer Geistlicher mit einer Handvoll Studenten. Sie riskierten es, auf einen der Panzer zu steigen, um von dort zwischen den Soldaten und ihren jungen Gegnern zu vermitteln. Kurz darauf schaffte es ein einziger Panzer, die Sperre aus Autobussen zu durchbrechen, aber er versuchte nicht mehr, zum Weißen Haus vorzudringen. Man sah ihn nur auf der Ringstraße in Richtung Stadtrand verschwinden. Die Zehntausende, die sich als lebender Schutzwall um Jelzin und das Weiße Haus versammelt hatten, gerieten nie ins Schussfeld der Kanonen.
    Am dritten Tag, dem 21. August, feierte Moskau Boris Jelzin und sich selbst in Massenversammlungen. Auf dem Platz vor der Zentrale des KGB , des allmächtigen Geheimdiensts, sammelten sich am Morgen viele Hundert Menschen. Diesmal waren es die Leute von der Geheimpolizei, die Angst hatten und hinter verschlossenen Türen auf einen Angriff warteten. Aber der kam nicht. Jelzins Mitarbeiter hatten erfahrene Soldaten zu dem Gebäude geschickt, um die Demonstranten von unberechenbaren Schritten zurückzuhalten. Stattdessen tanzte die Menschenmenge auf dem Platz vor der Geheimdienstzentrale und ihren Gefängnissen zur Ziehharmonika. Junge Arbeiter erkletterten das Denkmal von Felix Dserschinski, dem Gründer der berüchtigten Tscheka, der Geheimpolizei aus den Anfangsjahren der Sowjetunion. Sie legten der Statue eine Stahltrosse um den Hals, warteten, bis eine Fernsehkamera aufgestellt war, und rissen das riesige Denkmal von seinem Sockel herunter.
    Fünfhundert Meter von der Geheimdienstzentrale entfernt lag der Gebäudekomplex des Zentralkomitees der Partei. Dort war es bisher ruhig geblieben. Nun aber, nachdem selbst der KGB seinen Schrecken verloren hatte, war auch das ZK nicht mehr sicher vor der protestierenden Menge. Ein Funktionär, mit dem ich häufig Informationen über die deutsch-sowjetische Politik ausgetauscht hatte, rief mich in meinem Büro an. Jelzins Leute hätten das ZK umstellt, wollten ihn gefangen nehmen und verlangten die Herausgabe seiner ganzen

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