Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
– »Bei Archys«, sagte ich, und er antwortete: »Ja, in Archys. Da treffen wir uns mal wieder. Also merk dir den Namen Archys.«
So fuhren wir die hundert Kilometer Strecke durch die Ausläufer des Kaukasus in den Gebirgsurlaubsort Archys. Wir parkten an einer Wiese, die wie ein kleiner Landeplatz hergerichtet war, und hatten unsere Kameras gerade aufgebaut, als die Hubschrauber mit Kohl und Gorbatschow, den Außenministern Genscher und Schewardnadse und ihrem Gefolge von Experten und Sicherheitsleuten aufsetzten. Damit waren wir von Anfang an dabei, als sich der deutsche Bundeskanzler und der sowjetische Präsident zwischen dem Haus und einem Flüsschen leger in Strickjacke und Pullover gekleidet auf einer Sitzgruppe aus Baumstümpfen niederließen. Außenminister Genscher saß neben ihnen, die große Gruppe ihrer Begleitung stand um sie herum. Auch Raissa Gorbatschowa kam dazu und horchte im Stehen, was die großen Männer zueinander sagten. Um Politik ging es nicht mehr, vielmehr um den Austausch unverbindlicher, freundlicher Bemerkungen. Die anderen Gäste gingen am Fluss spazieren oder stießen auf die Freundschaft an. Raissa Gorbatschowa belehrte die vier Journalisten, Deutsche und Russen, wie man im Wald um die Regierungsdatscha herum die verschiedensten Sorten Pilze, und nicht bloß Pfifferlinge, sammeln könne. Es war ein ruhiger, entspannter Abend. Stärker noch als die Verhandlungsergebnisse prägte sich den Fernsehzuschauern das Bild der gemütlichen, fast familiären Gespräche ein, und die Zeitungen etikettierten das ungewöhnliche deutsch-sowjetische Zusammentreffen im Kaukasus, das so sinnfällig das Ende des Ost-West-Konflikts zu besiegeln schien, als die Konferenz der Strickjacken-Politik.
Die konservativen Sowjetfunktionäre in Partei und Armee beurteilten Gorbatschows Politik indes äußerst kritisch. Er war in ihren Augen zu weich, vertrat die politischen und militärischen Interessen der Sowjetunion nach außen nicht entschieden genug und schwächte im Inneren die Führungskraft der Partei. Gorbatschow aber schien den wachsenden Widerstand dieser Gruppierung nicht zu bemerken. Stattdessen hielt er schon seit langem Boris Jelzin für seinen gefährlichsten Gegner. Jelzin, der ebenso alt war wie Gorbatschow und aus dem Ural stammte, war 1985 als neuer Parteisekretär von Moskau in den Kreis der Reformer um Gorbatschow geholt worden und hatte sich zunächst für dessen Perestroika und gegen die alte Garde der Parteifunktionäre eingesetzt. Doch anders als Gorbatschow wollte Jelzin die Veränderung der Partei und der Sowjetunion sehr viel radikaler und grundsätzlicher erzwingen. Seine Popularität in der Hauptstadt wuchs ständig, während er Gorbatschows Reformkurs immer weniger folgte. Einige Jahre später steckte mir ein Mann, der sich als freier Journalist aus Swerdlowsk, dem früheren Parteibezirk Jelzins, ausgab und ganz offenbar zum KGB gehörte, ein älteres, nicht näher gekennzeichnetes Videoband zu: Da saß Jelzin nach der Rückkehr von einem ZK -Plenum offensichtlich betrunken an seinem Schreibtisch und redete über die Situation in Moskau. »Die Partei ist ein einziger Misthaufen der Korruption«, schimpfte er. »Du schaufelst einen Haufen Dreck weg, und kaum drehst du dich um, ist der Dreck schon wieder da.« Die Aufzeichnung, so sagte der Mann, beweise deutlich, dass Jelzin ein Alkoholiker sei. Er wollte ihn offenkundig diskreditieren. Aber sie zeigte mir auch, dass Jelzin sich innerlich schon früh von der Partei gelöst hatte.
So wurde aus dem einstigen Verbündeten ein äußerst schwieriger Gegner für Gorbatschow. Vor dem Zentralkomitee, dessen Mehrheit Gorbatschow gerade auf seine Seite zu ziehen versuchte, ging Jelzin im Herbst 1987 die Konservativen direkt an: Hohe Parteifunktionäre seien keine Wundertäter, mit der Perestroika werde es nicht vorangehen, solange die Armee von Schreiberseelen und Bürokraten in der Partei nicht zerschlagen sei. Mit den Futterkrippen der Funktionäre müsse Schluss gemacht werden, solange sich die Versorgung der Bevölkerung nicht verbessert habe. Dann dehnte er seine Generalabrechnung auch auf Gorbatschows Frau Raissa aus: Sie mische sich mit Telefonanrufen und Belehrungen in seine Arbeit ein und verlange Unterstützung für ihre Kulturprojekte. Solche Eingriffe verbitte er sich. Die Zuhörer im Saal verfolgten fasziniert, wie sich der Konflikt zuspitzte. Michail Gorbatschows ungewöhnlich enges Verhältnis zu seiner Frau war bekannt –
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