Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Dass Boris Jelzin als Präsident Russlands ihren Plänen gefährlich werden könnte, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Wenn sich der Präsident der Sowjetunion so leicht entmachten ließ, würde man mit dem Präsidenten Russlands, dem keine Soldaten unterstanden, erst recht leichtes Spiel haben, dachten sie.
Bezeichnenderweise fehlte in all ihren Erklärungen jeder Hinweis auf die kommunistische Partei. Die Führer des Staatsstreichs kamen aus Spitzenpositionen der KPDSU , aber sie wagten nicht, sich zu ihr zu bekennen. Die Partei war inzwischen so weit diskreditiert, dass jeder Bezug auf sie als Belastung empfunden wurde. Die Parteisekretäre waren am Vormittag zusammengekommen. Einige von ihnen hatten das Notstandskomitee unterstützt, andere hatten geschwiegen, die übrigen schoben Krankheiten vor und verschwanden, ohne zu Gorbatschows Schicksal Stellung zu nehmen. Auch die Regierung hatte in ihrer Kabinettssitzung nur einen kleinlichen Kompetenzstreit zwischen Ministern ausgetragen, ehe sich der Ministerpräsident schwer verkatert auf seine Datscha zurückzog. Als wir Journalisten nach der Pressekonferenz zusammenstanden und über die nächste Entwicklung rätselten, fasste Alexander Bovin die Lage zusammen: »Heute hat sich die kommunistische Partei der Sowjetunion von der Macht abgemeldet, ohne es zu bemerken.«
Aus Deutschland kamen die Anfragen an uns: Wird die neue Regierung den Kurs ihrer Deutschlandpolitik ändern? Ist die Sowjetarmee wirklich in Leningrad einmarschiert? Der Putsch schien erfolgreich verlaufen, wenn man die aufregenden Bilder von Panzerkolonnen im Fernsehen sah, und die Kollegen zu Hause waren nie ganz zufrieden, wenn ich antwortete, dass es noch gar keine neue Regierung gebe, dass das sogenannte Notstandskomitee hauptsächlich Schwächen zeige und die neue Machtverteilung noch ganz undurchsichtig sei. (Einige Wochen später kam der Chef einer großen russischen Außenhandelsgesellschaft, der zur Zeit des Putsches in Berlin war, auf dem Flughafen auf mich zu und bedankte sich: Ich hätte ihm seinen Job gerettet. Er hatte aufgrund vieler Fernseh- und Zeitungsberichte am zweiten Tag des Putsches schon ein Schreiben an das Notstandskomitee aufgesetzt, das er nun ironisch seine »Ergebenheitsadresse« nannte. Als er dann aber meine Berichte sah, habe er den Brief erst beiseitegelegt und später weggeworfen.)
Es war für uns natürlich schwer, hinter dem scheinbar machtvollen Aufmarsch der Truppen in Moskau die Schwächen der Putschisten aufzuzeigen, und es gehörte allerlei Erfahrung und Dickköpfigkeit dazu.
Die Panzer hatten mittlerweile von allen Seiten ihre Kanonen auf das Weiße Haus gerichtet. Soldaten und Offiziere beobachteten, wie um sie herum Barrikaden aufgebaut wurden, wie Studenten Balken und Eisenträger heranschleppten und Gruppen von Bauarbeitern mit Lastwagen und einigen Kränen schwere Betonteile auf die Straßenkreuzungen legten. Immer mehr Menschen bildeten einen lebenden Schutzwall um den Sitz des Präsidenten und des Parlaments. Den meisten war klar, dass die Armee das Weiße Haus dennoch stürmen konnte, wenn sie wollte. Da tauchte plötzlich auf einem Panzer die weißblaurote Fahne des neuen Russland auf. Zwei junge Männer in Zivil hielten sie hoch, und der Panzerkommandant hinderte sie nicht daran. Ganz langsam schob sich das Fahrzeug auf die Menschenmauer zu. Die Leute wichen zurück und bildeten eine Gasse, durch die der Panzer ans Weiße Haus heranfuhr, um dort zu wenden. Nun zeigte seine Kanone nicht mehr auf Jelzins Amtssitz. Vier andere Panzer mit weißblauroten Fahnen wechselten ebenfalls ihre Position und folgten ihm. Die Menschenmenge begleitete sie mit dem Ruf »Russland, Russland, Russland!«. Der Stellungswechsel war das erste Zeichen dafür, dass die Armee nicht geschlossen hinter dem Notstandskomitee stand.
Als gegen Mitternacht ein Hauptmann der Luftlandetruppen mit einer Gruppe Soldaten durch die Menge kam, wurden die Zivilisten unruhig. Sie umdrängten ihn und fragten, was denn Auftrag und Aufgabe der Soldaten sei. »Ich stehe auf keiner Seite«, antwortete er schließlich. »Das Volk soll mit politischen Mitteln entscheiden. Unsere Aufgabe ist es, Blutvergießen zu verhindern und das Gebäude des Obersten Sowjet der Russischen Republik zu schützen.« Die jungen Männer, die um die Panzer standen, wollten wissen, wer ihm diesen Befehl gegeben habe. »Jelzin persönlich«, sagte der Hauptmann, und diese Nachricht riefen die Menschen
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