Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
mit einer scharfen Reaktion musste man daher rechnen. Nun traten vierundzwanzig ZK -Mitglieder, darunter neun aus dem Politbüro, dem höchsten Führungsgremium des Landes, als Kritiker gegen Jelzin an. Gorbatschow selbst hielt sich zuerst zurück, warf dann aber seinem Gegner vor, er stelle seinen Ehrgeiz über das Interesse der Partei. Das Politbüro schloss Jelzin einstimmig aus, und der ging demonstrativ erhobenen Hauptes und mit großen Schritten durch den Mittelgang aus dem Saal. Gorbatschow, so erzählten Teilnehmer später, habe ihm nachgerufen: »Dich lasse ich in die Partei nie wieder rein!«
Gorbatschow war Sieger geblieben. Für Jelzin blieb zunächst einmal nur das Amt eines stellvertretenden Leiters der Baubehörde. Ein russischer Kollege gab mir einen Rat: Mit Politikern müsse man ein Interview suchen, wenn sie einen Job verloren und noch keinen neuen gefunden hätten. Solange er ZK -Sekretär gewesen war, hatte Jelzin Ausländern keine Interviews gegeben. Nun rief ihn mein Kollege an und beschaffte mir ein privates Gespräch in dem tristen Betonbau, in dem Jelzin mit seiner Familie wohnte. Er kam eine halbe Stunde zu spät, setzte sich zu mir an den Küchentisch, wischte mit dem Ärmel die Wachstuchdecke ab und redete sich seinen Ärger vom Leib. Er schimpfte über das Versagen der Partei, über die Selbstsucht, Faulheit und Bestechlichkeit der Funktionäre. Naina Jelzina, seine Frau, korrigierte einige seiner Bemerkungen, doch er ging darüber hinweg. »Du weißt nicht, wie die Funktionäre sind«, sagte er. Aber das nahm seine Frau nicht hin. »Ich weiß, wie sie sind. Ich war ja selbst mit einem Bonzen verheiratet.« Von da an wusste ich, dass ich mich auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen konnte, wenn sie gelegentlich im ARD -Studio vorbeikam und Spenden für eine Kinderhilfsorganisation sammelte.
Gorbatschow wurde im März 1990 von den Volksdeputierten zum Präsidenten der Sowjetunion gewählt. Aber das war mehr ein Titel als eine Machtposition. Jelzin dagegen baute seine Macht kontinuierlich aus und formulierte seinen Führungsanspruch immer nachdrücklicher. Im März 1990 war er mit 72 Prozent der Stimmen als Abgeordneter für Swerdlowsk in den russischen Kongress der Volksdeputierten eingezogen, im Mai 1990 wurde er zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Russischen Föderationsrepublik gewählt. Ein Jahr später, im Juni 1991 , gewann er die Wahl zum Präsidenten der Republik Russland. Er regierte damit den weitaus größten Teilstaat der Union, dessen Souveränität er mittlerweile anstrebte. Alles schien auf einen großen Konflikt zwischen Michail Gorbatschow und Boris Jelzin hinzuführen. Doch die wirkliche Gefahr kam am Ende aus einer Richtung, mit der Gorbatschow nicht gerechnet hatte.
Am 19. August 1991 wurde im Fernsehen um sechs Uhr morgens Moskauer Zeit eine wichtige Nachricht durchgegeben: »Im Zusammenhang mit der krankheitsbedingten Amtsunfähigkeit von Michail Sergejewitsch Gorbatschow gehen gemäß Artikel 127(7) der Verfassung der UdSSR die Vollmachten des Präsidenten auf den Vizepräsidenten der UdSSR , Gennadi Iwanowitsch Janajew, über. Unterzeichnet: G. Janajew, W. Pawlow, O. Baklanow.« Ich war spät in der Nacht von einem kurzen Urlaub aus dem Kaukasus nach Moskau zurückgekommen und schlief noch, als im Fernsehen diese Meldung kam. Eine Kollegin aus dem ARD -Büro rief mich um halb sieben an und machte mich auf die seltsame, ihr unverständliche Durchsage aufmerksam.
Es war klar, dass sich hier etwas Wichtiges ereignete, und ich machte mich sofort ins Studio auf. Im Zentrum der Stadt hatten die meisten Menschen die Meldung noch nicht gehört oder wussten nicht, was sie bedeuten sollte. Sie hatten auch die langen Kolonnen von Panzern und Mannschaftstransportern noch nicht gesehen, die von Westen und Südwesten auf die Stadt zurollten. Noch floss der Berufsverkehr, und die Militärfahrzeuge mussten sich durch ihn hindurchquälen. Auf dem Kutusowski Prospekt, direkt unter den Fenstern unseres Studios, fuhren die Panzer der Gardedivision Tamanskaja auf die Moskwa-Brücke zu, überquerten sie und bogen zum Weißen Haus ab, dem Sitz des russischen Präsidenten und des Parlaments. Sie stellten sich an den Zufahrten zum Gebäude auf, und ein Panzer postierte sich unmittelbar vor dem breiten Treppenaufgang. Mittlerweile waren die ersten Moskauer gekommen. Junge Männer, die in der Armee gedient hatten, kletterten auf den Panzer und zogen einen jungen Soldaten aus
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