Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Millionen deutsche Soldaten in sowjetische Gefangenschaft geraten. Nur zwei Millionen hatten die Lager überlebt, und fast alle von ihnen waren inzwischen nach Deutschland entlassen worden. Nun ging es um die Freilassung der letzten Zehntausend, die noch in der Sowjetunion festgehalten wurden, sowie um Russlanddeutsche oder Menschen aus den Grenzgebieten, die nach Deutschland ausreisen wollten. Sieben Millionen Petitionen mit der Bitte, die Gefangenen zurückzubringen, waren in den Monaten zuvor im Bundeskanzleramt eingetroffen. Ein sogenannter Freiheitslauf der deutschen Jugend von Berlin nach Bonn hatte mit einer Kundgebung vor Adenauers Kanzleramt geendet. In der Bundesrepublik war so der Eindruck entstanden, wichtigstes Ziel der Reise sei die Heimholung der Gefangenen.
Am 8. September 1955 landete Adenauer mit einer Delegation von zweihundert Politikern, Diplomaten, technischen Mitarbeitern, Sekretärinnen, Leibwächtern und Journalisten auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo. Zehn Jahre nach Kriegsende und zwei Jahre nach Stalins Tod musste man eine Konferenz erwarten, die unter schweren emotionalen Belastungen stattfinden würde, unter den Erinnerungen an den Krieg, unter dem Misstrauen und der Furcht, mit denen sich Deutsche und Russen vermutlich gegenüberträten. Moskau, darunter stellten sich viele eine verarmte, kriegszerstörte, von der Polizei beherrschte, eher provinzielle Stadt vor, so wie manche von ihnen Russland im Krieg erlebt hatten. In die Hauptstadt des Weltkommunismus und des KGB zu reisen war der deutschen Delegation und den meisten Journalisten auf jeden Fall unheimlich. Am Tag vor der Abreise hatte Adenauer noch vor Pressevertretern geäußert, er komme sich vor, als fahre er in das Hauptquartier einer Räuberbande.
Tatsächlich wusste man in der deutschen Delegation nur wenig über die Lage in der Sowjetunion nach dem Tode Stalins. Das Auswärtige Amt verfügte damals noch über keine Russlandabteilung mit diplomatischen Experten, auch einen festangestellten Russisch-Dolmetscher gab es noch nicht. Für die Delegation fand man zum Glück einen klugen Übersetzer russischer Literatur und Dichtung, Rolf-Dietrich Keil, der Stimmungen bereits an Tonfall und Ausdrucksweise erkennen konnte. Als Russlandkenner galt in der Delegation ansonsten ein Professor Koch. Er war in der NS -Zeit Ostforscher in Königsberg und »Berater für ukrainische Angelegenheiten« im Oberkommando der Wehrmacht gewesen und hatte sehr holzschnittartige Vorstellungen davon, wie man mit Russen umgehen müsse. Die anderen Mitreisenden waren Diplomaten mit Auslandserfahrung oder führende Vertreter aus dem Bundestag; manche von ihnen, wie der Vizepräsident des Deutschen Bundestags Carlo Schmid oder Kurt Georg Kiesinger, waren zwar gute Gesprächspartner bei offiziellen Essen, wussten aber kaum etwas über die sowjetische Situation und das außenpolitische Konzept der neuen Führung.
Ich war zu jung für die Erinnerungen und Vorurteile, wie sie viele in der Delegation nach Moskau mitbrachten. Stattdessen war ich neugierig auf dieses fremde Land und freute mich, dass ich überhaupt an der Reise teilnehmen konnte, denn eigentlich war das gar nicht vorgesehen gewesen. Die Gruppe der etwa hundert deutschen und ausländischen Korrespondenten umfasste unter anderem die Büroleiter der großen Zeitungen, Agenturen und Rundfunkanstalten mit engen Beziehungen zum Kanzleramt und zu den Experten der Delegation. Erst in letzter Minute war aufgefallen, dass keiner von ihnen Russisch verstand. Daraufhin setzte sich der Kölner Intendant Hartmann entschieden dafür ein, dass ich mit den älteren Kollegen mitreisen durfte. Für mich sprach auch, dass ich einige Monate zuvor bei Chruschtschows erstem Auslandsbesuch in Belgrad eine Art Scoop hatte landen können: Ich meldete als Erster, dass sich Chruschtschow bei Tito für Stalins Verbrechen entschuldigt hatte, eine Weltsensation.
Wir Journalisten waren von Ost-Berlin mit einer Zusatzmaschine abgeflogen und kamen zwei Stunden vor dem Kanzler in Moskau an. Während wir auf dem Flugfeld warteten, trat der sowjetische Protokollchef an unsere Gruppe heran und fragte, ob jemand vom Rundfunk dabei sei. Ich meldete mich vorsichtig, worauf er mich zu einem Mikrofon führte und erklärte: »Hier wird eine Leitung nach Hamburg geschaltet. Von hier können Sie nachher über die Ankunft Kanzler Adenauers berichten.« Ich war völlig überrascht, denn es war nichts Derartiges vorbesprochen worden. Der
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