Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Visier. Doch nun ging ich durch die Moskauer Nacht, ohne dass sich jemand für mich interessierte – auch die Männer nicht, die bei meiner Rückkehr noch immer in der Hotelhalle saßen, und die Etagendame fragte bloß, ob ich eine Tasse Tee haben wolle. Ich war kaum fünf Minuten zurück in meinem Zimmer, da klingelte das Telefon. Ich hob ab, aber es meldete sich niemand. So unbeobachtet, wie ich gedacht hatte, war ich offenbar doch nicht gewesen.
Die meisten mitreisenden Bonner Korrespondenten pflegten ihre deutschen Informationsquellen und wurden ab und zu von Delegationsmitgliedern und Leuten des Bundespresseamtes mit einigen Details versorgt. Weder die deutschen noch die sowjetischen Presseamtsvertreter waren befugt, Eindrücke vom Verlauf der Verhandlungen wiederzugeben. An Interviews mit Mitgliedern der Delegation war gar nicht zu denken. Auf sowjetischer Seite wäre niemand auf die Idee gekommen, Zurufe und Fragen der Journalisten aufzugreifen. Dennoch merkten wir, dass im Sitzungssaal des Spiridonowka-Palais etwas Ungewöhnliches vorging, mehr als nur der Austausch diplomatisch abgewogener Reden. Außenminister Heinrich von Brentano, erst seit kurzer Zeit im Amt, kam irgendwann sichtlich erregt aus dem Palais herausgeschossen und rief uns ein paar Worte zu, so etwas wie: »Unverschämtheit, unerträglich, die Verhandlungen sind zu Ende. Wir reisen ab!« Nur die schlechten Telefonverbindungen bewahrten mich davor, eine Falschmeldung in die Welt zu setzen, wie sie heute innerhalb von Minuten, von Sekunden, über Rundfunk, Fernsehsender und durch das Internet kursieren würde. Dabei war das, was der Außenminister uns vier oder fünf Journalisten, die stundenlang auf der Straße ausgeharrt hatten, zugerufen hatte, lediglich Brentanos »persönliche Meinung«, wie der Kanzler uns später erklärte. Als Adenauer selbst aus dem Verhandlungssaal kam, winkte er uns zu: keine Rede von Abbruch der Verhandlungen. Anders als die meisten seiner Berater und ohne es auszusprechen, hatte der Kanzler sich entschlossen, auf keinen Fall ergebnislos nach Hause zu reisen.
Eine Möglichkeit nachzufragen, gab es an Ort und Stelle nicht. Sich in sowjetische Hotels einzuschleichen, um Delegierte zu befragen, war zu normalen Tageszeiten aussichtslos. Immer weniger deutsche Kollegen wollten länger auf der Straße warten, und auch die wenigen sowjetischen Journalisten zogen nach und nach ins Pressezentrum. Nur einer der jüngsten im sowjetischen Pressetross hielt gemeinsam mit mir bis zur Abfahrt der Limousinen die Stellung. Wir kamen ins Gespräch und stellten fest, dass wir beide gern Korrespondenten werden wollten, er in Bonn und ich in Moskau. Nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, so dachten wir, müssten schließlich nicht nur Botschafter, sondern auch Journalisten ausgetauscht werden.
Lediglich ein paar Starjournalisten oder Bürochefs, die in Bonn zu den Auserwählten des Kanzlerkreises gehörten, bekamen Hinweise über den Verlauf der Gespräche. Was am nächsten Tag in deutschen Zeitungsartikeln darüber erschien, passte gleichwohl nicht immer zusammen. Hatte Adenauer nun Chruschtschow mit den Fäusten gedroht oder nicht? Hatte Chruschtschow geflucht und gepöbelt und ebenfalls mit der Faust gedroht? Und wie hatten die russischen Gastgeber auf den trockenen Humor Adenauers reagiert, als der beim ersten Empfang auf ein großes Bild von Karl Marx zeigte und zu Bulganin sagte: »Der ist auch aus dem Rheinland.« Oder als der Bundeskanzler den russischen Ministerpräsidenten fragte, ob er schon mal den Namen Pferdmenges gehört habe: »Der ist ein Großneffe von Herrn Friedrich Engels und einer unserer größten Kapitalisten.« Bulganin zeigte keine Reaktion. Wahrscheinlich wusste er das alles tatsächlich nicht. Es waren höchstens solche Gesprächssplitter aus den Konferenzräumen, auf die wir Journalisten uns einen Reim zu machen suchten. Ansonsten waren wir ahnungslos, wie die Stimmungslage war.
In Moskau lebte und arbeitete zu dieser Zeit nur ein knappes Dutzend akkreditierter Korrespondenten aus westlichen Ländern. Sie versuchten natürlich von uns zu erfahren, was im Verhandlungssaal vorging. Wir dagegen hörten von ihnen, was Mitarbeiter der deutschen Delegation den amerikanischen, englischen und französischen Diplomaten, aber nicht den deutschen Korrespondenten mitgeteilt hatten. Doch die Korrespondenten gaben uns sehr oft unterschiedliche Informationen weiter. Manche Botschafter betrieben in dieser
Weitere Kostenlose Bücher