Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Hinsicht ihre ganz eigene Politik. Der amerikanische Botschafter, der hochangesehene Russlandkenner Charles Bohlen, war zunächst besonders kritisch und lehnte Adenauers Moskauer Verhandlungen völlig ab. Dann hörten wir von amerikanischen Kollegen, Bohlen wolle Adenauers Bemühungen nun doch unterstützen, denn Präsident Eisenhower habe ihm in einem scharfen Telegramm mitgeteilt, er vertraue auf Adenauers Verhandlungsstrategie. Das wiederum ließ die US -Botschaft später über amerikanische Korrespondenten zu uns Deutschen durchsickern.
Einige Kollegen mit engen Verbindungen zum Kanzleramt hatten schon aus ihren Bonner Vorgesprächen etwas mehr Hintergrundwissen und reichten uns ihre Erkenntnisse manchmal bröckchenweise weiter. Daraus konnte man sich immerhin die deutsche Themenliste zusammenreimen. Erstens: keine Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Zweitens: Bereitschaft zu Verhandlungen über Wirtschaftsbeziehungen. Drittens: Belebung der kulturellen Beziehungen. Und schließlich viertens: Freilassung der Kriegsgefangenen und Verschleppten. Vielleicht hatte es eine solche Liste in Bonn wirklich gegeben, aber sie war offensichtlich nicht die endgültige. Von anderen Bonner Kollegen hörte ich, nach Adenauers Ansicht könne auch über die Wiedervereinigung gesprochen werden oder eben doch über eine Art diplomatischer Beziehungen. Ein Austausch von Botschaftern komme für ihn allerdings wohl nicht in Frage.
Das Problem war, dass man selbst im inneren Kern der Delegation nicht genau wusste, was Adenauer vorhatte. Unter seinen Beratern und Begleitern gab es ganz widersprüchliche Vorstellungen darüber, wie weit man bei der Aufnahme formeller Beziehungen gehen solle. Außenminister Brentano etwa war gegen fast alle Gespräche in Moskau und wollte die Ergebnisse so klein wie möglich halten. Ebenso wie die Außenminister der drei westlichen Mächte waren er und sein Beraterstab für eine restriktive Verhandlungsführung, bei der die Sowjets die bestehenden Grenzen in Deutschland als »vorläufig, aber unveränderbar« bestätigen sollten. Sie empfahlen sogar, auf das Wort »Verhandlungen« ganz zu verzichten und nur den Terminus »Gespräche« zu benutzen.
Eigentlich wollte Adenauer keine deutschen Politiker mit am Verhandlungstisch haben, die wie Brentano eigene rigide Vorstellungen über das deutsch-sowjetische Verhältnis hegten. Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard beispielsweise hatte er deswegen nicht in die Delegation aufgenommen – das beklagten später russische Diplomaten, die sich von den Verhandlungen einen Durchbruch in den Außenhandelsbeziehungen erhofft hatten. Adenauer hatte Sorge, Verhandlungen in Anwesenheit des Wirtschaftsministers würden den engen Rahmen überschreiten, den er gesetzt hatte. Er hatte deswegen den Führer der Freien Demokraten, Thomas Dehler, ebenfalls außen vor gelassen, weil dieser wiederum zu stark auf die Wiedervereinigung als Verhandlungsziel drängte. Bei den vorbereitenden Besprechungen nahm er durchaus zur Kenntnis, was ihm Mitarbeiter und Experten vortrugen, gab diesen selbst aber kaum Hinweise darauf, wie weit er bei den Verhandlungen gehen würde. Adenauer war ein Praktiker und nicht bereit, seinen Spielraum durch ideologische Vorbehalte oder durch Anhänger der einen oder anderen Richtung in der Ost- und Wirtschaftspolitik einengen zu lassen. Sein Antikommunismus und Antisowjetismus standen schließlich außer Frage.
So begannen die Verhandlungen am 9. September. Von vielem, was in den folgenden Tagen in Moskau besprochen wurde, erfuhr ich erst sehr viel später in Unterhaltungen mit deutschen Delegationsteilnehmern oder sogar erst nach zwanzig Jahren von einem russischen Dolmetscher. Der Tag begann mit einem Höflichkeitsbesuch des deutschen Bundeskanzlers bei Außenminister Molotow und Ministerpräsident Bulganin – das war pures Protokoll. Niemand aus dem Westen konnte wissen, dass Molotow zu den alten Führern gehörte, die Chruschtschow wenig später aus Moskau verbannen würde. Um elf Uhr vormittags saßen sich die Delegationen an einem langen Tisch im Spiridonowka-Palais gegenüber. Die erste Sitzung leitete Ministerpräsident Bulganin. Er hielt eine sehr allgemeine Rede, in der er an gute Zeiten deutsch-russischer Zusammenarbeit erinnerte und hervorhob, dass der Friede in Europa auch künftig von solch guter Kooperation abhänge. Seine Rede rückte dann die Aufnahme diplomatischer Beziehungen in den Vordergrund. Adenauer dagegen sprach von der
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