Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Mann vom Protokoll – oder vom KGB – meinte jedoch, Rundfunktechniker in Ost-Berlin würden die Verbindung organisieren. Er drückte mir das Mikrofon in die Hand und sagte, sobald Kanzler Adenauer und Ministerpräsident Bulganin sich begrüßten, könne ich anfangen. Zehn Minuten später öffnete sich die Flugzeugtür, und ich begann das Geschehen zu schildern, ohne zu wissen, ob mich überhaupt jemand in Deutschland hörte. Ich beschrieb, wie Adenauer die Gangway herunterkam und wie die sowjetische Paradeeinheit das Gewehr präsentierte und das Deutschlandlied spielte, während der Kanzler mit Ministerpräsident Bulganin vorbeischritt. Auch ohne Kontakt mit der Technik des NDR in Hamburg kommentierte ich also eine Zeremonie, die uns Deutschen am Tag zuvor noch unvorstellbar erschienen war.
Auf einmal beobachtete ich etwas Eigenartiges, vom Protokoll nicht Vorgesehenes: Adenauer nahm seinen Gastgeber bei der Hand und führte ihn in Richtung Pressetribüne. Was er zum Regierungschef der Sowjetunion sagte, konnten wir nicht verstehen. Mehr als zwanzig Jahre später erzählten mir jedoch der deutsche und der sowjetische Dolmetscher, was sie bei der Begegnung aus nächster Nähe erlebt hatten. »Kommen Sie mit. Das sind heute die eigentlichen Diktatoren«, habe Adenauer halblaut gesagt, während er Bulganin zu den Fotoreportern mitnahm. Es war eine Bemerkung, die dem deutschen Dolmetscher unheimlich war: zehn Jahre nach Hitlers und zwei Jahre nach Stalins Tod so von Diktatoren und Fotografen zu sprechen. Alles andere, was das Protokoll vorsah – Vorbeimarsch der Ehrengarde, die flatternden Fahnen der Sowjetunion und der Bundesrepublik, auch die »Hurra, hurra, hurra«-Rufe –, war dagegen keine Überraschung. Doch die Art und Weise, wie Adenauer aus der Situation heraus improvisiert hatte, war für uns ein erstes Zeichen, dass diese Konferenz durchaus ungewöhnlich verlaufen könnte – zumal Parteichef Nikita Chruschtschow ein ganz anderer Typ war als der höfliche, aber konventionelle Bulganin.
Von nun an war alles vorzüglich organisiert. Das überraschte uns, denn wir hatten uns Moskau anders vorgestellt. Man behandelte uns großzügig und gastfreundlich. Es gab ein Besuchsprogramm für Delegierte und Journalisten, das aber kaum wahrgenommen wurde. Theaterkarten waren reserviert, wurden aber nicht abgeholt, und in den großen Hotelrestaurants lagen seitenlange Speisekarten aus, die ungelesen blieben. Die russischen Kollegen fragten, ob wir deutschen Journalisten wirklich ständig Artikel und Kommentare über Adenauer in Moskau nach Hause durchgeben müssten und ob wir gar kein Interesse an Russland hätten. Manche aus der deutschen Delegation wiederum hegten den Verdacht, die Sowjets wollten uns Journalisten durch ein Touristenprogramm bloß ablenken, damit wir nur ja keine wirklichen Informationen über Moskau sammeln könnten.
Tatsächlich war ein direkter Kontakt mit Moskauer Bürgern für Journalisten und Delegationsmitglieder so gut wie unmöglich. Die meisten Russen machten sich schnell davon, wenn man sie als Deutscher auf der Straße ansprach. Über solchen Versuchen der Kommunikation hing ein zweifacher Schatten: die Erinnerung an die schrecklichen Opfer und Wunden, die Deutsche wenige Jahre zuvor dem Land zugefügt hatten, und darüber hinaus die Erinnerung an Stalin, zu dessen Lebzeiten jeder Kontakt mit Ausländern schwer bestraft werden konnte. Diejenigen unter uns, die etwas über das sowjetische Leben und Denken erfahren wollten – und das war nicht die Mehrheit in der Journalistengruppe –, hatten das Gefühl, hinter einer Glasscheibe zu arbeiten.
Am zweiten Abend wagte ich dennoch einen Spaziergang auf eigene Faust. Die Etagendame auf unserem Flur, die unübersehbar ein Auge auf uns hielt, saß gerade nicht an ihrem Platz. In der Halle des Hotel National dösten zwei oder drei Männer und bemerkten mich nicht. Draußen ging es vorbei an einer Bäckerei und einem großen Fischgeschäft. Am zentralen Telegrafenamt war ein Polizist vor der Tür postiert, aber auch er regte sich nicht. Hinter dem Bolschoi-Theater stand noch einer. Vor der Prunkfassade des Theaters kam ich auf eine breite Straße mit hohen modernen Häusern, die in meinem alten Stadtplan gar nicht verzeichnet war. Gerade die Tatsache, dass sich überhaupt nichts rührte, empfand ich als bedrohlich. Wir alle waren gewarnt worden, jeder Schritt und jedes unserer Worte würden registriert und die Geheimpolizei habe uns immer im
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