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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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bezahlen. Er ist Gast.« Nach dem Essen nahm mich der Lehrer mit zu sich nach Hause. Wir gingen die Hauptstraße von Werchojansk entlang, die damals immer noch Stalinstraße hieß – die Entstalinisierung war offenbar noch nicht bis hierher vorgedrungen. Auf halbem Weg lag ein kleiner eingezäunter Platz mit einer Holztribüne. An Feiertagen winkte hier der Vorsitzende des Ortssowjets dem Volk zu, den 1500 Menschen aus dem Dorf und von den Rentier-Kolchosen der Umgebung. Die Straße selbst ging irgendwann in einen schmalen Weg über, der sich in den graubraunen Hügeln verlor.
    Eines der Zweifamiliengebäude, die neben der Schule lagen, war das Lehrerhaus. Roschins Arbeitszimmer wirkte trostlos und kahl, ein roher Holztisch mit einem Stuhl und ein überladenes Bücherregal. Auf dem Fußboden stapelten sich neben Lehrbüchern und Schulheften Werke von Marx, Engels, Lenin, Stalin – sogar ein Band mit Gedichten von Heinrich Heine war dabei. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne. Ob man in Deutschland auch Marx, Engels, Kautsky und Lenin studiere, fragte Roschin, und ob es bei uns auch viele Bilder von Lenin, Marx und Engels gebe. Meine Antwort überraschte ihn nicht. Er war politisch geschult und wusste, dass die Bundesrepublik Deutschland kein fortschrittliches Land war. Unsere Unterhaltung blieb zäh: Auf seiner Seite bestand sie fast nur aus Phrasen.
    Später am Nachmittag luden mich meine beiden Zimmernachbarn ein, mit ihnen einen Film zu sehen. Ein Kino besaß Werchojansk zwar nicht, aber im Kulturhaus gab es ein Zimmer mit dreißig Stühlen und einem Projektor. Wir warteten gespannt, was man uns zeigen würde, und zu meiner Überraschung war es schließlich ein französischer Film, Lohn der Angst mit Yves Montand. Im Westen galt das als ein spannendes sozialkritisches Stück, in Werchojansk faszinierte der Film, weil er ein Land zeigte, in dem ständig die Sonne schien und die Opfer des Kapitalismus Whiskey tranken. Dazu erklang flotte südamerikanische Musik. So nahm die soziale Anklage im Kulturhaus von Werchojansk fast märchenhafte Züge an. Der düstere Schluss konnte daran nichts ändern, denn wir bekamen ihn nicht zu sehen: Die Vorführung brach mittendrin ab, und es hieß, der zweite Teil solle in einigen Wochen gezeigt werden. Ich konnte freilich bei meinen jakutischen Zimmergenossen dadurch punkten, dass ich ihnen das Ende erzählte. Sie waren unterwegs zu ihren Rentierherden und hätten ohne mich wohl nie erfahren, wie die Geschichte ausgegangen ist.
    Als ich Werchojansk zwanzig Jahre später in der Breschnew-Zeit erneut besuchte, hatte sich der kleine Ort nur wenig verändert. Im Gegensatz zum Lehrer Innokenti Roschin, der jetzt neue Fragen stellte: Ob die deutsche Industrie wirklich so gut funktioniere und ob sie dazu beitragen könne, Sibirien zu erschließen. Er sprach inzwischen auch mehr von jakutischen Traditionen als vom Marxismus. 1992 , bei unserer dritten Begegnung, war Roschin dann Abgeordneter des jakutischen Parlaments. Nun ging es ihm darum, die Bodenschätze Jakutiens gegen die Ausbeuter aus Moskau zu verteidigen. Mittlerweile war die zweistöckige Schule fertig geworden, und gemeinsam mit dem Ortsvorsitzenden erzählte er mir davon, wie man künftig Jagdfreunde aus dem Westen als Touristen nach Werchojansk holen werde. Daraus war allerdings nichts geworden, als ich 1997 zum vierten Mal Werchojansk anflog – der einzige Westeuropäer, der sich viermal in seinem Leben für den kleinen Ort interessiert habe, meinte der Ortsvorsitzende. Roschin war nunmehr der Direktor der Schule, die einige Jahre zuvor zur besten ländlichen Schule Russlands gewählt worden war. Als ich ihn zu Hause aufsuchen wollte, war er nicht da. Er war zu einer medizinischen Behandlung in der Hauptstadt Jakutsk, wie mir seine Frau Swetlana erzählte. Sie zeigte mir ihr Treibhaus: zwei Meter hoch, verglast, fast hundert Quadratmeter groß, mit einem Holzofen in der Mitte. So etwas habe es früher nicht gegeben, sagte sie und präsentierte mir Tomaten und Gurken, Kürbisse und Paprikaschoten. Zum Schluss gab sie mir die Telefonnummer der Wohnung, in der ihr Mann auf die Untersuchung im Krankenhaus von Jakutsk wartete. Er war nicht sonderlich überrascht von meinem Anruf. Wir sähen uns eigentlich alle zehn Jahre, meinte er, und diesmal seien eben nur fünf vergangen.
    Am Sonntagnachmittag trafen wir uns im Park hinter dem Sportstadion von Jakutsk. Dort kam er mit alten Freunden zusammen, gemeinsam tanzten sie

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