Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
in der Sowjetunion nirgends gab.
Zu den Empfängen im Georgssaal des Kreml waren üblicherweise rund vierhundert Gäste geladen, die durch die rote Kordel, an der ich schon während des Adenauer-Besuchs gestanden hatte, von den ausländischen Ehrengästen, den Parteiführern und Ministern getrennt wurden. An langen Tischen gab es Stör, Kaviar, Pilzragout, Spanferkel und allerlei Aufschnitt, dazu Flaschen mit Champagner, Wodka und Mineralwasser. In diesem Teil des Saals konnten wir Ausländer mit Leuten ins Gespräch kommen, zu denen wir sonst nie Zugang hatten: Generäle, Offiziere der Raketentruppen, Vertreter des staatlichen Planungskomitees, Universitätsrektoren. Je ranghöher die Gesprächspartner, desto ungezwungener schien die Unterhaltung, aber sie blieb natürlich konventionell. Immerhin konnte man führende Leute aus der Nähe betrachten, Schauspieler und Schriftsteller persönlich kennenlernen, die Gesichter von Ministern und ZK -Sekretären studieren – und auch einmal mit dem über siebzigjährigen Marschall Budjonny über die längst vergangenen Reiterattacken seiner Kosaken reden. Die meisten im Georgssaal waren jedoch von ihrer Fabrik oder ihrer Dienststelle entsandt worden, das »Gästeproletariat«, wie wir sie nannten. Sie aßen schweigend und waren verwundert darüber, dass sie das große Los einer Kreml-Einladung gezogen hatten. Im Laufe der ersten Stunde arbeiteten wir Korrespondenten uns dann an die rote Kordel heran. Chruschtschow hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die protokollarisch vorgeschriebenen Trinksprüche und die zugehörigen Wodkas hinter sich und war gelangweilt von den abgezirkelten Phrasen der Diplomatie. Das war der Augenblick, in dem wir uns bemerkbar machten, um ihn herüberzulocken. Manchmal kam er, um gleich Streit anzufangen. »Ist hier ein Engländer?«, fragte er kurz nach der Suezkrise im Herbst 1956 und setzte dem Reuters-Korrespondenten den Finger auf die Brust: »Dem britischen Löwen haben wir den Schwanz abgekniffen.«
Andere Male schien es, als wolle sich Chruschtschow von dem Ärger befreien, den er aus internen Gesprächen mitgebracht hatte. Er wetterte dann darüber, dass fast ausschließlich Kinder von Funktionären an den Universitäten studierten und nicht einmal zehn Prozent der Studenten aus Bauern- und Arbeiterfamilien stammten. Oder er schimpfte, dass es viel zu viele Juristen gebe, die keine nützliche Arbeit täten. Nun wolle auch noch seine Tochter Julia Jura studieren, dabei seien viele Jurastudenten doch Juden, die nicht arbeiten, sondern nur eine höhere Bildung erwerben wollten. Auch über die Trägheit der Kolchosvorsitzenden und Bauern, über niedrige Ernteerträge und verrostende Maschinen ließ er sich aus.
Wir ahnten, dass er in einem harten Kampf um Veränderungen von Politik und Staat steckte, aber er war meist zu verärgert oder verbittert, als dass er zu langen Diskussionen bereit gewesen wäre. Stellte einer von uns eine Frage, die ihm missfiel, dann sah er einen bloß mit seinen eiskalten Schweinsaugen an. Oft war es schwer für uns, seine Worte zu bewerten. Wollte er ein Signal an den Westen senden, wenn er sagte, Kommunismus bedeute nicht Revolution und Umsturz des Kapitalismus, oder räsonierte, auch Parlamente könnten echte Organe der Arbeiterklasse sein? Es gebe verschiedene Wege zum Sozialismus, meinte er einmal, und die Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten sei für Kommunisten nicht nur möglich, sondern notwendig. Für solche Bemerkungen waren vor ihm noch Leute nach Sibirien geschickt oder erschossen worden. Später fanden wir mitunter ähnliche Gedanken, vorsichtiger formuliert, in offiziellen Dokumenten und Reden wieder.
Ende 1956 lud der chinesische Ministerpräsident Zhou Enlai am Ende einer Osteuropareise zu einem Empfang in die chinesische Botschaft. Chruschtschow war ebenfalls anwesend und erweckte den Eindruck, als seien nun, nach dem Ungarnaufstand und der Unruhe in Osteuropa, die Krisen und Spannungen, die seine Entstalinisierung heraufbeschworen hatte, überwunden. Die Gäste im Saal wirkten lebhafter als sonst. Vielleicht hatten die erfahrenen Wodkatrinker aber auch nur den hochprozentigen Hirseschnaps Maotai unterschätzt. Die offiziellen Reden waren vorbei, als Chruschtschow hinter dem Banketttisch der Ehrengäste noch einmal sein Glas erhob. »Trinken Sie auf den Sieg des Kommunismus. Dieser Sieg kommt«, rief er den westlichen Botschaftern zu. »Es ist historisch sicher, dass wir Sie begraben werden. Ob Sie
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