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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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Flugzeug mit Platz für zwölf bis fünfzehn Personen. Die Maschine flog auf Sicht – einmal lag eine menschliche Siedlung, ein Rentier-Kolchos, unter uns, dann wieder Bergtaiga mit dünnen Wäldern und moosbedeckten Ebenen.
    Schließlich flog die LI -15 ganz tief über eine Hügelkette und bog in ein breites Tal ein. Da standen ein flaches Holzhaus und ein Mast mit einem Windsack. Die Wiese unter uns war der Flugplatz. Nach der Landung ging ich etwas unentschlossen zu dem kleinen Haus, aber da kam schon ein hochgewachsener Ukrainer in der blauen Uniform von Aeroflot auf mich zu. Er war der Chef des Flughafens und fragte, ob ich angemeldet sei, was ich vorhätte und wie lange ich bleiben wolle. Er wirkte nicht sonderlich überrascht von dem ausländischen Besucher. Dann schlug er vor, mich in den Ort zu begleiten, ein Fußweg von fünf Minuten.
    Die ersten Gebäude von Werchojansk wirkten nicht gerade einladend: flache Blockhäuser, umgeben von einem meterhohen Erdwall, mit flachen Dächern, die mit einer Erdschicht bedeckt waren. Die ärmsten Häuser des Orts, sagte der Flughafenchef, aber ich bemerkte, dass es viele von dieser Art gab. Der Sitz des Ortssowjets war ein einstöckiger Holzbau, besaß jedoch ein richtiges Dach, war mit Lehm verkleidet und weiß gekalkt. Im Hof weidete eine Kuh. In der großen halbdunklen Diele summte ein Wasserkessel, wie in einem Bauernhaus. Dann betrat man das Büro und war wieder in der Sowjetunion: ein Raum mit dem typischen langen, grün überzogenen Konferenztisch, an dem Funktionäre überall im Lande ihre Sitzungen abhielten. Der Ukrainer von Aeroflot stellte mich zwei Männern vor, dem Vorsitzenden des Ortssowjets und seinem Stellvertreter, beides Jakuten, die mit Ausländern hier noch nie zu tun gehabt hatten.
    »Kalt heute, nicht wahr?«, fragte mich der stellvertretende Vorsitzende. »Bald wird es Winter, dann ist es hier richtig kalt. Das macht uns nichts aus. Wir leben hier ganz gut, nicht gerade reich, aber auch nicht arm.« Eigentlich sei ich zu früh gekommen, meinten beide, denn noch gebe es nur milde Nachtfröste. Im Dezember oder Januar würde es für einen Touristen richtig interessant. Und dann erzählte der Vorsitzende, dass er im Krieg bis Wien gekommen sei. Dort sei das Klima ja sehr angenehm. In Wien gebe es das ganze Jahr Gemüse zu essen. Hier in Werchojansk lebe eine Frau, die habe sogar Kartoffeln gepflanzt und könne sie jetzt ernten. Das solle ich mir mal ansehen. Während der Vorsitzende einen Lehrer anrief, der als Leiter der Kulturabteilung von Werchojansk arbeitete, fragte mich sein Stellvertreter über Deutschland aus. Ob die Teilung noch lange dauern werde, ob man von einem Teil in den anderen reisen könne. Ich erklärte ihm die Verhältnisse, woraufhin der Vorsitzende, der inzwischen sein Telefonat beendet hatte, sich wieder ins Gespräch einmischte: »So was kann man sich gar nicht vorstellen«, sagte er kopfschüttelnd. »Jakutien geteilt – in Ostjakutien und Westjakutien –, und die Leute können nicht mehr über den Lena-Fluss zusammenkommen.« Er verabschiedete sich, stieg auf sein Rad und fuhr zum Angeln.
    Der Stellvertreter zeigte mir meinen Schlafplatz. Auf der anderen Seite der großen Diele befand sich ein Raum mit drei eisernen Bettgestellen. Bettzeug und Wolldecken lagen auf der Matratze. Es gab einen kleinen, mit Lehm ummauerten Ofen, drei Stühle und einen Tisch, auf dem eine Karaffe mit kaltem Tee stand. »Tee«, meinte mein Gastgeber, »Tee muss sein, damit man sieht, dass das Wasser wirklich abgekocht ist.« Auf zwei Marmeladengläsern standen Kerzen. Daneben lag eine Schachtel Streichhölzer. Auf einem Bett schlief ein Mann bereits, auf dem anderen saß ein junger Jakute, den ich schon im Flugzeug gesehen hatte. Dann machte mich der stellvertretende Vorsitzende des Ortssowjets mit dem Lehrer Innokenti Roschin bekannt, einem kleinen mageren Mann und reinblütigen Jakuten, wie er dabei ausdrücklich betonte. Roschin sagte sofort, er sei in Werchojansk geboren und aufgewachsen. Als er hörte, dass ich während meines kurzen Aufenthalts in Jakutsk die Universität besichtigt hatte, wollte er wissen, ob der Direktor ein Russe oder ein Jakute sei. Die Frage der Nationalität war ihm offenkundig wichtig. Er schlug nun vor, erst einmal mit mir in der Ortskantine essen zu gehen: Kartoffelsuppe, Schweinegulasch mit Reis, Rote Grütze und Kakao. Bezahlen durfte ich nicht. »Ich weiß den Gast zu ehren. Bei uns braucht der Gast nicht zu

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