Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
er kurzerhand eine Kapelle von Berufsmusikern an, und nun erklangen im spießig eingerichteten Speisesaal wieder der Amur-Wellen-Walzer, die Donkey-Serenade und ab und zu ein eingängiges Stück von Gershwin. Zwar wurde der Saal nicht mehr voll, aber dafür schob sich nun ein gemischtes mittelaltes Publikum über das Parkett, an dem selbst der Jungkommunistenverband nichts auszusetzen hatte.
Ich war über zehntausend Kilometer durch Sibirien gereist, aber jetzt saß ich wieder in Moskau mit extremer Reisebeschränkung: Vom Roten Platz aus, auf den ich von meinem Hotelzimmer blicken konnte, durfte ich mich nur in einer Zone mit einem Radius von dreißig Kilometern frei bewegen. Und selbst dreißig Prozent von dieser Zone waren Sperrgebiete. Interviews und Besichtigungen wurden von unbekannten Dienststellen organisiert und waren meist kaum mehr als Pressekonferenzen mit vorbereiteten Erklärungen. Bitten um Begegnungen mit sowjetischen Intellektuellen und Professoren blieben meist unbeantwortet. Aber es gab auch Ausnahmen. So hatte es seit Ende 1957 im Fall des Dichters Boris Pasternak eine Entwicklung gegeben, die es den sowjetischen Stellen nützlich erscheinen ließ, ausländischen Korrespondenten ein Treffen mit dem berühmten Schriftsteller zu vermitteln.
Boris Pasternak war einer der großen Lyriker zur Anfangszeit der Sowjetunion gewesen, gemeinsam mit Majakowski und Jessenin gefeiert als einer der Dichter des sogenannten Dreigestirns. Die beiden anderen hatten später unter dem Druck der stalinistischen Diktatur Selbstmord begangen; Pasternak dagegen war es gelungen, als Übersetzer bedeutender Werke der Weltliteratur, von Goethe und Shakespeare, die Jahre der Unterdrückung zu überstehen. Seit langer Zeit hatte er an dem Roman Doktor Schiwago gearbeitet, einem Buch über das Schicksal russischer Menschen in den Aufbaujahren der Sowjetunion – kein antisowjetisches Pamphlet, sondern eine tief empfundene, nachdenkliche Auseinandersetzung mit dem schwierigen Leben als Intellektueller unter Stalin. Jahrelang schien es, als habe der Roman keine Chance auf Veröffentlichung. Doch mit Stalins Tod im März 1953 begann eine Zeit, für die der Autor Ilja Ehrenburg in einer gleichnamigen Novelle die Bezeichnung »Tauwetter« fand.
Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler fingen an, sich wieder vorsichtig mit der Wirklichkeit des Lebens auseinanderzusetzen. Sie wagten es zwar nicht, die Ungerechtigkeiten des Sowjetsystems offen zu benennen, aber sie wollten, dass die Fehler und Härten der Vergangenheit beseitigt würden. Viele erinnerten sich jetzt auch wieder an Boris Pasternak. Alte Bekannte meldeten sich, Schriftsteller, Musiker und Schauspieler trafen sich in seinem Haus, und immer häufiger standen junge Frauen mit den Gedichtbänden der zwanziger und dreißiger Jahre vor seiner Tür und erbaten ein Autogramm. Ein Jahr nach Stalins Tod druckte eine Moskauer Literaturzeitung zum ersten Mal wieder zehn Gedichte von ihm ab: »Verse aus dem Roman in Prosa ›Doktor Schiwago‹«. Das Parteiorgan Prawda indes reagierte schnell und attackierte den Dichter als Dekadenzler, Symbolisten und subjektivistischen Individualisten. Im Westen, wo man mittlerweile auch nach Pasternaks Schicksal und dem neuen Roman fragte, verkündete der Leiter der Auslandsabteilung des sowjetischen Schriftstellerverbands, Pasternak habe seinen Roman nicht beendet, weil er durch seine Arbeit als Übersetzer reich und träge geworden sei. Zwei Jahre vergingen, ohne dass eine Zeile von ihm in der Sowjetunion gedruckt werden konnte. 1955 wurde Pasternak schließlich zu einer offiziellen Veranstaltung nach Moskau eingeladen: Der deutsche Dichter Bertolt Brecht, der den Stalin-Preis erhalten sollte, hatte explizit darum gebeten. Doch der russische Dichter sagte ab und arbeitete lieber in aller Stille weiter. Ende 1955 war Doktor Schiwago vollendet.
Das Manuskript wurde nun in Redaktionen begutachtet und von Parteiorganen überprüft. Mehrfach wurde verlautet, Doktor Schiwago werde in wenigen Wochen oder Monaten erscheinen. Ein junger Redakteur in Moskau, so hieß es, solle noch einige notwendige Kürzungen vornehmen. Pasternak war mit solchen Eingriffen in seinen Text durchaus einverstanden. Er gehörte zwar nicht zu jenen Autoren, die ihre Bücher nach den Parteirichtlinien umschrieben, aber es war ihm recht, wenn eine gekürzte Ausgabe in der Sowjetunion herauskam. Tolstois Auferstehung sei in erster Ausgabe auch nur in einer von der Zensur
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