Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
Vom Netzwerk:
jakutische Volkstänze, und der Vorsänger improvisierte Lobgesänge auf die Natur und die Menschen, die in ihr leben. Irgendwann nahm Roschin mich an der Hand und reihte sich mit mir in den Reigen ein. Es waren lauter ältere Leute, pensionierte Lehrerinnen und Schuldirektoren, Frauen aus der Bezirksverwaltung, Leiterinnen kleinerer Krankenhäuser, Partei- und Staatsfunktionäre, eine weißhaarige Frau war sogar Abgeordnete des Obersten Sowjet in Moskau. Roschin und ich setzten uns anschließend auf eine Parkbank und dachten über die vergangenen fast vierzig Jahre nach. Er selber habe sich verändert und sein Leben auch, sagte er. »Als ich jung war, wollte ich an die Hochschule, um die Wahrheit zu lernen und für sie zu kämpfen. In dieser Hinsicht haben sich meine Prinzipien nicht gewandelt. Aber als Student und junger Lehrer habe ich alles vom Standpunkt der kommunistischen Ideologie aus gesehen. Das ganze Leben lag unter dieser Kuppel, und ich will diese Lehre auch heute nicht völlig wegwerfen. Da war ja auch die Idee der Gleichberechtigung von Menschen und Völkern. In diesem Sinne bin ich auch heute nicht gegen die marxistisch-leninistische Lehre, aber diese Doktrin war eben ganz einseitig, und dann wurde sie auch noch durch Stalin entstellt. Also bin ich dafür, dass sich unsere Gesellschaft in Richtung Demokratisierung bewegt, trotz all der Schwierigkeiten, die wir heute haben. Früher sollte es nur den Sowjetmenschen geben. Aber die Menschen sind doch verschieden, mit unterschiedlichen Interessen und Begabungen, ganz abgesehen von ihrer nationalen Herkunft. Bei uns steht nun auch die jakutische Kultur auf dem Lehrplan. Man muss doch seine Muttersprache sprechen können.« Auf unserem kleinen Planeten seien es die Unterschiede der Kulturen, die das Leben reich und vielfältig machten, meinte der alte Schuldirektor. Andrej Sacharow, der Atomwissenschaftler und Friedensnobelpreisträger, habe solche Prinzipien vertreten. Sein früher Tod habe ihm wehgetan, sagte der Schuldirektor zu mir. »Vieles ändert sich, das muss so sein. Wir beide werden uns nicht mehr entwickeln. Wir sind ja gleich alt und halten uns aufrecht. Sie arbeiten, ich arbeite, das ist das Beste dabei.« Es war unser letztes Gespräch, und bis heute ist für mich eine Frage offen: War der junge Innokenti mit seinem Sermon kommunistischer Theorie bei unserer ersten Begegnung fünf Jahre nach Stalins Tod bloß vorsichtig gewesen oder hatte sich sein Weltbild im Laufe der Jahre tatsächlich so stark gewandelt? Auffällig jedenfalls war, dass Roschin mit mir nie über das Leben unter Stalin gesprochen hat. Immerhin lag das kleine Werchojansk in dem riesigen Gebiet der Arbeits- und Todeslager.
    Als ich mich 1958 von Werchojansk zum ersten Mal verabschiedete, hatte ich den Reiseplan der Moskauer Behörden in der Tasche, auf dem fast nur noch große Städte standen: Irkutsk, Tschita und Chabarowsk im fernen Osten. Doch was in Moskau geplant worden war, ließ sich nicht so einfach realisieren. Ein Abschnitt der Reise wurde am Abend vor der Weiterfahrt von Jakutsk ersatzlos gestrichen: Die Polizei teilte mir mit, die vorgesehene Strecke sei für Ausländer gesperrt. Daraufhin musste ich in einen kleinen Ort an der mittleren Lena fliegen – »sozusagen ins Nichts«, wie die junge Frau bei Intourist sagte, die meine Reise umbuchte. Mir tat es nicht leid, denn je kleiner und abgelegener die Orte waren, desto mehr interessierten sie mich. Nach drei Tagen in Olekminsk bekam ich einen Anschlussflug nach Süden in die Großstadt Irkutsk und dann weiter Richtung Osten. Diesmal blieb ich ungeplant in Birobidschan, einer Kleinstadt im äußersten Südosten der Sowjetunion. Fünfunddreißig Jahre zuvor war sie als Siedlungszentrum für die Juden Russlands ausersehen worden, dann aber war ihre Entwicklung bald steckengeblieben. Für mich wurde Birobidschan zum Endpunkt meiner Sibirienreise. Ein Mann von der Stadtverwaltung hatte ein Telegramm aus Moskau erhalten: Das eigentlich vorgesehene Ziel, die große Industriestadt Chabarowsk, sei für Ausländer gesperrt worden.
    Eine andere Rückreiseroute stand jedoch nicht auf meinem Plan. Ich versuchte meine Sekretärin in Moskau anzurufen, doch erst zwei Tage nach der Anmeldung gab es eine Verbindung. Ich wisse nicht, wie ich nach Moskau kommen solle, sagte ich, in Birobidschan gebe es keinen Flugplatz. Sie möge mit den Ausländerbehörden klären, welche Route ich benutzen solle. Anderthalb Tage später kam die

Weitere Kostenlose Bücher