Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
telegrafische Antwort: »Abwarten bis ein Platz frei.« Ich hatte Deutsch mit meiner Sekretärin gesprochen – das war ein Fehler gewesen. Sie hatte verstanden, es gebe keinen Platz im nächsten Flug nach Moskau, und so hatte sie es auch der Ausländerbehörde mitgeteilt. Und selbst beim KGB wusste man offenbar nicht, dass in Birobidschan kein Flughafen existierte. Bis Chabarowsk waren es bloß noch 170 Kilometer, aber ich traute mich nicht, durch diese offenbar neu eingerichtete Sperrzone zu fahren.
In Birobidschan hatte ich inzwischen alle Sehenswürdigkeiten besucht, die kleine Synagoge und die Bibliothek mit Büchern in Russisch und Jiddisch, erschienen in einem jüdischen Verlag, der zehn Jahre zuvor geschlossen worden war. Nun half mir der Ortsvorsitzende. Ich merkte, dass er mich loswerden wollte, und tatsächlich brachte er mich zum Bahnhof, kurz bevor ein Zug der Transsibirischen Eisenbahn in Richtung Moskau fahren sollte. Er half mir, ein Billett zu kaufen – allerdings nur bis Tschita, zwei Tage Bahnfahrt entfernt und immer noch weit weg von Moskau. In Tschita wiederum hatte ich auf der Hinfahrt die Chefin des Intourist-Büros kennengelernt, die mir nun ein Flugticket nach Irkutsk besorgte. Als ich dort landete, war gerade auch eine große Düsenmaschine aus Peking angekommen. Mit dem Koffer in der Hand begab ich mich zum Schalter von Intourist. Gegen fünfzig Rubel Zuschlag durfte ich schließlich in die Maschine umsteigen, die nach Moskau weiterfliegen sollte. Irgendwie gefiel mir der Gedanke, dass die Behörden in Moskau, die doch jeden Schritt eines Ausländers beobachten wollten, noch weniger als ich wussten, wo ich mich eigentlich aufhielt. Und so war ich bereits wieder in meinem Hotel am Roten Platz, während mich der KGB noch am anderen Ende des Landes vermutete.
Mittlerweile wohnte ich wieder im National, und dort war es auch, dass ich eines Abends, als ich mit dem Fahrstuhl in mein Zimmer fuhr, so etwas wie Jazzmusik hörte, es klang nach Cool Jazz, damals das Neueste aus Amerika. Die Musik kam aus dem Restaurant. Der Speisesaal war überfüllt, bevölkert von jungen Leuten, die aussahen, als lebten sie in Saint Germain des Prés oder Schwabing, Männern mit Existenzialistenbart und Frauen, die ihr langes Haar à la Juliette Gréco frisiert hatten. An einem runden Tisch saßen Komponisten, Musiker und Musikkritiker, wie sich später herausstellte, und klatschten mit großem Vergnügen. An einem anderen Tisch lauschten Offiziere in Uniform mit ihren Mädchen misstrauisch den ungewohnten Klängen, und dann waren da auch recht gut angezogene Männer mit ein paar jungen Frauen, so schick gekleidet, wie man sie in Moskauer Restaurants selten sah. Ein paar ältere Leute, offenbar Hotelgäste, hatten sich auf der Suche nach einem Abendessen in diesen Saal verirrt. Sie ertrugen die Musik und aßen, ohne zu protestieren.
Zwei der jungen Musiker, den Pianisten und den Schlagzeuger, hatte ich schon einmal kurz getroffen – im Gorki-Institut für Weltliteratur. Da hatten sie den Auftritt von einigen blutjungen Dichtern begleiten wollen, doch das hatte die Leitung nicht genehmigt. Die beiden studierten am Konservatorium, andere wollten Ingenieure und Ärzte werden, und es gab an den Moskauer Universitäten und Instituten noch sehr viel mehr Jazzfans. Während der Weltjugendfestspiele 1957 in Moskau, bei denen die Sowjetführung Modernität demonstrieren wollte, hatte diese Band sogar den zweiten Preis gewonnen. Nun jazzten sie im feinen National, durch dessen große Fenster man auf die Kremltürme mit den leuchtenden roten Sternen blickte. Der Direktor des Hotels hatte überlegt, wie er in den Wochen des Jahres, wenn kaum ausländische Touristen kamen, Gäste in sein Restaurant locken könnte. Da hatte man ihn auf die Amateurband aufmerksam gemacht, die während der Weltjugendfestspiele mit Rücksicht auf die Ausländer gewissermaßen behördlich anerkannt worden war. Und nun waren in dem langweiligen Restaurant alle Tische besetzt.
So gab es einige Monate Jazz gegenüber vom Kreml. Dann allerdings meinten die jungen Musiker, dass sie nicht nur als geduldete Amateure auftreten, sondern ganz professionell ihren Anteil von den Einnahmen bekommen sollten – doch dem Hoteldirektor war es ohnehin schon mulmig bei dem Gedanken an die Kritik, die früher oder später von der Partei und vom kommunistischen Jugendverband kommen würde. Als die jungen Jazzfans ein paar Tage nicht mehr auftreten wollten, heuerte
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