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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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es wollen oder nicht, der Kommunismus wird kommen. Das ist, wie wenn eine Frau schwanger wird und ein Kind gebiert, dann kann man das Kind auch nicht …« Politbüromitglied Anastas Mikojan, ein nüchterner Armenier, zog Chruschtschow am Arm. »Nikita Sergejewitsch, wir haben schon verstanden.« Aber Chruschtschow ließ sich nicht unterbrechen. »Wenn eine Frau ein Kind kriegt, dann kann das kein Arzt in die Mutter zurückdrücken. Das kann keiner. Der Kommunismus siegt.« Gastgeber und Ehrengäste wirkten erleichtert, als Chruschtschow nun mit der Floskel vom Rad der Geschichte fortfuhr. Die Chinesen blickten unbewegt vor sich hin, einige westliche Diplomaten tranken Chruschtschows Toast auf den Sieg des Kommunismus mit, andere stellten die Gläser weg.
    Wir Journalisten wussten oft nicht recht, wie wir derlei Ausbrüche bewerten sollten, und es blieb immer die Frage, wie weit der Wodka aus Chruschtschow gesprochen hatte. Immerhin aber verdanke ich einem solchen Moment mit dem sowjetischen Parteiführer eine Reise, die mich 1958 nach Sibirien führen sollte, in den fernen Osten der Sowjetunion. Auf einem Empfang in der italienischen Botschaft hatte sich Chruschtschow mal wieder mit uns Korrespondenten angelegt. Wir verstünden nichts von Russland und den Russen. »Ihr müsst viel mehr mit den einfachen Menschen reden«, sagte er. »Die einfachen Menschen reden nicht gern mit uns«, antworteten wir. »Dann müsst ihr sie zu euch einladen«, gab er zurück. »Die kommen nicht zu uns«, sagte ein Kollege, »vor jedem unserer Häuser steht ein Polizist, und der lässt sie nicht herein.« Einer der Leibwächter drängte sich zwischen uns und erklärte, die Polizisten seien nicht dazu da, die Ausländer zu isolieren, sondern um sie zu schützen: »Was würden Sie sagen, wenn ein Mann in Ihr Haus kommt und Sie ermordet?« Chruschtschow schob den Leibwächter beiseite und empfahl uns, möglichst oft aus Moskau aufs Land zu reisen, wo die Menschen offen und gastfreundlich seien – am besten ins weite Sibirien.
    Am nächsten Morgen schickte ich einen Reiseantrag an die Presseabteilung des Außenministeriums: Der Erste Sekretär der KPDSU , Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, habe mich bei einer Begegnung in der italienischen Botschaft aufgefordert, über die Menschen in Sibirien zu berichten. Im Außenministerium begann eine schwierige Beratung, wie ich viele Jahre später erfuhr: Hatte Chruschtschow seine Aufforderung ernst gemeint? Wollte er wirklich, dass ein Journalist aus Westdeutschland nach Sibirien reiste? Man hätte ihn fragen können, aber niemand war erpicht darauf, beim großen reizbaren Chef nachzuhaken. Da schien es einfacher, mich reisen zu lassen. Nach einer Woche kam eine Rückfrage: Wohin ich in Sibirien fahren wolle? Das war nun nicht so leicht zu beantworten. Die wenigen größeren Städte im Süden Sibiriens interessierten mich nicht besonders. Im Norden dagegen war seit dem Zweiten Weltkrieg, als dort amerikanische Hilfslieferungen auf dem Seeweg angekommen waren, kein westlicher Ausländer mehr gewesen. Auf gut Glück nannte ich einen Namen, der mir aus dem Erdkundeunterricht in Erinnerung war: Werchojansk, in Lexika verzeichnet als kältester Ort der Erde mit einer Minustemperatur von 67,8 Grad. Und dann suchte ich im Atlas ein paar weitere Städte, größere und kleine Orte. Tatsächlich bekam ich daraufhin einen Reiseplan vorgelegt, der mich bis fast an den Pazifik führen sollte.
    Vierzig Stunden samt Zwischenstopps und Verspätungen brauchte die zweimotorige Maschine, um über den Ural, über eine Mondlandschaft abgeernteter riesiger Getreidefelder, über die Sümpfe der Tundra und dünn bewaldetes Bergland ins breite Stromtal des Lena-Flusses zu gelangen. Bei nächtlichen Zwischenlandungen auf kleinen Flughäfen kam man sich vor wie im Flüchtlingslager; die einstöckigen hölzernen Hotels mit ihren Sechsbettzimmern waren zu klein und die Zahl der Reisenden zu groß. Manche lagen auf dem Fußboden, hockten auf Fensterbrettern und Balustraden oder schliefen mit ihrem Koffer als Kissen; einige Familien teilten sich mit Gepäckstücken und Holzbänken kleine Ecken des Raumes ab, die Frauen gaben ihren Babys die Brust, die Männer holten sich Wodka und Bier, aber niemand klagte, niemand schien unzufrieden. In Jakutsk, der Hauptstadt der sibirischen Republik Jakutien, wartete ich einen Tag und eine Nacht lang auf die nächste Maschine. Dann wurden wir endlich aufgerufen: Eine LI -15 stand bereit, ein

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