Unterwegs
rammte beinah das erste der langsamen Autos, scherte gleich wieder zum Überholen aus und musste wieder einschwenken, weil ein anderer Wagen hinter dem Laster ausscherte und zum Überholen ansetzte – all dies im Zeitraum von zwei Sekunden! Dean schoss an allen vorbei und hinterließ nur eine Staubwolke statt einer grauenvollen Massenkarambolage von Autos, die in alle Richtungen kippten, und dem gewaltigen Sattelschlepper, der seinen Buckel ins tödliche Rot des Nachmittags über den verträumten Feldern von Illinois reckte. Ich musste gegen meinen Willen dauernd an einen berühmten Bebop-Klarinettisten denken, der kürzlich bei einem Autounfall in Illinois ums Leben gekommen war, vielleicht an einem Tag wie diesem. Ich setzte mich wieder nach hinten.
Auch die Jesuiten-Boys blieben jetzt auf dem Rücksitz. Dean war entschlossen, Chicago vor Einbruch der Nacht zu erreichen. An einem Güterbahnhof nahmen wir zwei Wanderarbeiter mit, die einen halben Dollar für Benzin zusammenbrachten. Eben noch hatten sie zwischen aufgestapelten Eisenbahnschwellen gehockt und vielleicht einen letzten Rest Wein weggeputzt, jetzt schaukelten sie in einer schlammverkrusteten, aber ungebeugten, prächtigen Limousine mit halsbrecherischem Tempo in Richtung Chicago. Der alte Knabe neben Dean auf dem Beifahrersitz hing mit den Augen am Asphalt und betete wahrscheinlich im Stillen seine armseligen Landstreichergebete. «Na», sagten sie, «hätten wir nicht geglaubt, dass wir so schnell nach Chicaaago kommen.» Während wir so durch verschlafene Städte von Illinois brausten, wo die Leute es gewöhnt sind, dass jeden Tag Gangster aus Chicago in ihren langen Limousinen vorbeifahren, boten wir wohl ein seltsames Bild: allesamt unrasiert, der Fahrer mit nacktem Oberkörper, dazu zwei Landstreicher, ich selbst auf dem Rücksitz, die Hand im Haltegriff verkrallt und mit Herrscherblick die Landschaft betrachtend – die typische California-Gang, unterwegs nach Chicago, um Beute zu machen, eine Horde von Desperados, aus Zuchthäusern unter dem Mond von Utah entsprungen. In einer kleinen Stadt, wo wir vor der Tankstelle hielten, um Cokes zu kaufen und Sprit nachzutanken, liefen die Menschen zusammen und gafften uns an, aber sie sagten kein Wort, und ich nehme an, sie prägten sich für alle Fälle ein, wie wir aussahen und wie groß wir waren. Um mit dem Mädchen von der Zapfstelle zu verhandeln, warf Dean sich ein T-Shirt über die Schulter, lässig wie einen Schal, und war kurz angebunden und ruppig wie immer und stieg wieder ein, und wir donnerten wieder los. Aus der Röte des Abendhimmels wurde bald ein Purpurrot, und der letzte der verzauberten Flüsse blitzte kurz auf. Schon sahen wir den fernen Smog von Chicago jenseits des Straßenrings. Die ganze Strecke von Denver, über Ed Walls Ranch bis nach Chicago, tausendneunhundert Kilometer insgesamt, hatten wir in genau siebzehn Stunden zurückgelegt, die zwei Stunden im Straßengraben und die drei Stunden auf der Ranch und die zwei Stunden im Polizeirevier von Newton, Iowa, nicht mitgerechnet, also ein Durchschnittstempo von einhundertzehn Stundenkilometern, quer durch das Land, mit nur einem Fahrer. Schon ein irrer Rekord.
zehn
Chicago, das große Chicago, glühte rot vor unseren Augen. Auf der Madison Street sahen wir uns plötzlich inmitten von Landstreicherhorden; manche lagen ausgestreckt auf der Straße, die Füße auf dem Bordstein, andere drängten sich zu Hunderten vor Kneipen und Seitengassen. «Jupp-jupp! Haltet die Augen auf nach Old Dean Moriarty, vielleicht ist er zufällig dieses Jahr in Chicago.» Hier, an dieser Straße, setzten wir die beiden Penner ab und fuhren weiter nach downtown Chicago. Kreischende Straßenbahnen, Zeitungsjungen, vorbeistöckelnde Mädchen, die Gerüche von Gebratenem und Bier in der Luft, blinkende Neonreklamen – «Wir sind in der Großstadt, Sal! Hoheee!» Als Erstes mussten wir den Cadillac an einem guten dunklen Platz verstecken, uns waschen und umziehen für die Nacht. Gegenüber vom YMCA entdeckten wir eine mit Ziegelsteinen gepflasterte Gasse zwischen zwei Gebäuden, wo wir den Cadillac abstellten, die Nase zur Straße und startbereit; dann folgten wir den Jesuiten-Boys hinüber ins christliche Hospiz, wo sie ein Zimmer bekamen und uns auf eine Stunde ihr Bad benutzen ließen. Dean und ich rasierten uns und duschten; ich verlor in der Halle meine Brieftasche, Dean fand sie und wollte sie gerade heimlich in seinem Hemd verschwinden lassen, als
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