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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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dieser Nacht bezahlt. Es war ein schmutziger Stiefel, keine funkelnde Luxuslimousine mehr. «Huiii!» Bei Anita spielten die Typen noch immer.
    Plötzlich starrte Dean in eine dunkle Ecke neben dem Podium und sagte: «Sal, Gott ist erschienen.»
    Ich sah hin. George Shearing . Und wie immer, sein blindes Haupt in die bleiche Hand gestützt, ganz Ohr mit seinen weit offenen Elefantenohren, lauschte er den amerikanischen Klängen und formte sich daraus seinen britischen Sommernachtstraum. Man drängte ihn, aufs Podium zu steigen und zu spielen. Er tat es. Er spielte unzählige Chorusse mit verblüffenden Akkorden, die höher und höher kletterten, bis die Schweißtropfen auf die Klaviertasten spritzten und alle ergriffen und in Ehrfurcht lauschten. Nach einer Stunde führten sie ihn vom Podium. Er kehrte zurück in seine dunkle Ecke, Old Shearing, der Gott, und die Typen sagten: «Nach ihm kommt nichts mehr.»
    Aber der schlanke Leader runzelte die Stirn. «Spielen wir trotzdem weiter.»
    Es würde schon etwas dabei herauskommen. Immer kommt etwas heraus, es geht immer noch etwas weiter – es hört nie auf. Sie tasteten sich an neue Phrasen heran, nach Shearings weitläufigen Erkundungen; sie strengten sich an. Sie krochen in ihre Instrumente hinein, sie verrenkten sich, sie bliesen den Sound. Hin und wieder vermittelte ein klarer, harmonischer Aufschrei eine Ahnung von einem neuen Ton, der eines Tages die Herzen der Menschen zur Freude erheben und der einzige Song in der Welt sein würde. Sie fanden ihn, sie verloren ihn wieder, sie rangen um ihn, sie fanden ihn abermals, sie lachten, sie stöhnten – und Dean saß schwitzend am Tisch und rief ihnen zu: «Go, go, go!» Um neun Uhr morgens waren alle, die Musiker, die Mädchen in weichen langen Hosen, die Barmänner und der unglückliche kleine Posaunist, am Ende, sie stolperten aus dem Club in den lärmenden Tag von Chicago hinaus, um sich auszuschlafen, bis die wilde Bebop-Nacht wieder begann.
    Dean und ich standen zitternd und zerrissen im rauen Morgen. Es war an der Zeit, den Cadillac seinem Besitzer zurückzubringen; der Mann lebte am Lake Shore Drive in einer eleganten Wohnung, mit einer großen Garage im Tiefgeschoss, die von ölverschmierten Negern geführt wurde. Wir fuhren hin und stellten den schlammverkrusteten Schrott auf seinen Platz. Der Mechaniker erkannte den Cadillac nicht wieder. Wir übergaben ihm die Papiere. Er sah sie an und kratzte sich am Kopf. Wir mussten schleunigst verschwinden. Das taten wir. Wir nahmen einen Bus nach downtown Chicago, und das war’s dann. Und wir hörten nie wieder ein Wort von unserem Geldbaron aus Chicago über den Zustand seines Wagens, obwohl er unsere Adressen hatte und sich hätte beschweren können.

elf
    Es war an der Zeit, dass wir uns wieder auf den Weg machten. Wir nahmen einen Autobus nach Detroit. Das Geld ging uns aus. Wir schleppten unser zerlumptes Gepäck durch den Busbahnhof. Deans Daumenverband war inzwischen fast kohlenschwarz und hatte sich aufgelöst. Wir sahen beide so erbärmlich aus, wie man nur aussehen kann, wenn man hinter sich hat, was wir hinter uns hatten. Dean schlief erschöpft ein in dem Bus, der quer durch den Staat Michigan donnerte. Ich sprach ein üppiges Mädchen vom Lande an; der tiefe Ausschnitt ihrer Baumwollbluse enthüllte die leckere Sonnenbräune ihrer Brustansätze. Sie war dumm. Sie erzählte von Abenden auf dem Land, wenn sie auf der Veranda Popcorn machte. Früher hätte dergleichen mein Herz erfreut, doch da das ihre nicht froh war, als sie mir davon erzählte, wurde mir klar, dass es für sie nichts weiter war als die Vorstellung, was man an einem schönen Abend machen sollte. «Und was machst du sonst noch so zum Spaß?», fragte ich in dem Versuch, das Gespräch auf Freunde und Sex zu bringen. Ihre großen schwarzen Augen musterten mich mit leerem Blick und mit einem Kummer, der seit Generationen und Generationen in ihrem Blut verankert war, weil nie getan worden war, was schreiend danach verlangte, getan zu werden – was immer es sein mochte, und jeder weiß, was es ist. «Was erwartest du dir vom Leben?» Am liebsten hätte ich sie gepackt und die Antwort aus ihr herausgeschüttelt. Nicht die leiseste Ahnung hatte sie, was sie wollte. Sie redete von Jobs, vom Kino, vom Besuch bei ihrer Großmutter im Sommer, von ihrem Wunsch, einmal nach New York zu fahren und ins Roxy zu gehen, und was sie anziehen sollte – etwas wie das, was sie letztes Jahr zu Ostern getragen

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