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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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außer wenn er durch Gegenverkehr gezwungen war, in der kriechenden Kolonne auf armselige hundert runterzugehen. Wenn er die Chance sah, schoss er vor und ließ ein halbes Dutzend Autos in einer Staubwolke hinter sich. Ein Spinner in einem brandneuen Buick sah dies alles, und er beschloss, uns auf der Straße ein Rennen zu liefern. Dean wollte gerade einen Langweiler vor uns überholen, als der Kerl ohne Vorwarnung, schreiend und hupend, an uns vorbeizog und herausfordernd mit den Rücklichtern blinkte. Wie ein Raubvogel nahm Dean die Verfolgung auf. «Na, warte», lachte er. «Jetzt lasse ich den Hurensohn ein paar Dutzend Kilometer schmoren. Pass auf.» Er ließ dem Buick ein gutes Stück Vorsprung, dann gab er Gas und hängte sich an die Stoßstange des anderen. Der Spinner in seinem Buick flippte aus; er jagte seine Karre auf hundertsechzig. Jetzt hatten wir eine Chance, ihn genauer zu sehen: anscheinend ein Hipster-Typ aus Chicago, mit einer Frau, alt genug, um seine Mutter zu sein – und wahrscheinlich war sie es. Gott weiß, ob sie jammerte, aber er drückte aufs Gas, er lieferte uns ein Rennen. Er hatte struppiges schwarzes Haar, ein Italo-Gangster aus dem alten Chi, und trug ein Sporthemd. Womöglich dachte er, wir seien eine neue Gang aus L. A., die in Chicago eindringen wollte, vielleicht ein paar von Mickey Cohens Männern, weil die Limousine ganz danach aussah und kalifornische Nummernschilder hatte. Aber in der Hauptsache war es einfach nur Spaß. Er riskierte alles, um seinen Vorsprung zu halten; er überholte in den Kurven, und er konnte sich kaum noch wieder einordnen, wenn ein Lastwagen schlingernd entgegenkam und immer größer wurde. Hundertdreißig Kilometer von Iowa flogen auf diese Weise an uns vorbei, und so spannend war das Rennen, dass ich gar keine Zeit hatte, Angst zu haben. Irgendwann gab der Spinner auf, hielt vor einer Tankstelle, wahrscheinlich weil die alte Mutter es befohlen hatte, und winkte uns munter zu, als wir vorbeirauschten. Weiter rasten wir, Dean mit nacktem Oberkörper, ich mit den Füßen auf dem Armaturenbrett, und auf dem Rücksitz pennten die College-Boys. Zum Frühstück hielten wir an einem Diner, und die weißhaarige alte Frau am Tresen gab uns extragroße Portionen Kartoffeln, während in der benachbarten Kleinstadt die Kirchenglocken läuteten. Und weiter ging es.
    «Dean, fahr nicht so schnell bei Tag.»
    «Keine Sorge, Mann, ich weiß, was ich tue.» Ich wurde unruhig. Wie ein Engel des Schreckens stürzte sich Dean auf ganze Wagenreihen. Er rammte sie fast, wenn er eine Lücke zum Einordnen suchte. Er hängte sich an die Stoßstangen der Wagen vor ihm, er verlangsamte und beschleunigte und reckte den Kopf, um eine Kurve einzusehen, und dann flog der schwere Wagen mit einem Satz hinaus auf die Überholspur, und immer schafften wir es gerade eben noch, uns wieder einzufädeln, wenn der Gegenverkehr in Kolonnen vorbeirauschte – mir grauste. Ich hielt es nicht mehr aus. In Iowa gibt es selten lange, gerade Strecken wie in Nebraska, und als wir endlich wieder eine gefunden hatten, schnurrte Dean mit seinen üblichen hundertsiebzig dahin, und draußen vor dem Fenster blitzten verschiedene Bilder auf, die mich an meine Fahrt von 1947 erinnerten – die lange Straße, an der Eddie und ich zwei Stunden lang festsaßen. Die Straße der Vergangenheit zog verschwommen an mir vorüber, als hätte ich den Becher des Lebens gekippt und alles verschüttet. Es war ein Albtraum, am helllichten Tag, von dem mir die Augen schmerzten.
    «Dean, verdammt, ich gehe nach hinten, ich halte das nicht mehr aus, ich kann’s nicht mehr sehen!»
    «Hi-hi-hi!», kicherte Dean und überholte auf einer schmalen Brücke ein Auto, schlingerte im Staub und raste weiter. Ich kletterte nach hinten und legte mich auf den Rücksitz schlafen. Einer der Jungs setzte sich nach vorn, weil es ihm Spaß machte. Ich war wie gelähmt vor Angst, wir würden an diesem Morgen einen Unfall bauen, und ich legte mich auf den Wagenboden und kniff die Augen zusammen und versuchte einzuschlafen. Als ich zur See fuhr, hatte ich beim Einschlafen immer an die rauschenden Wellen unter der Nussschale des Schiffes gedacht, an die grundlose Tiefe darunter – und jetzt spürte ich, keinen halben Meter unter mir, den Asphalt, auf dem wir mit vollen Segeln dahinbrausten, auf dem wir mit unglaublichem Tempo über den stöhnenden Kontinent flogen, mit diesem übergeschnappten Kapitän Ahab am Steuer. Wenn ich die Augen

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