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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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die alte Billardhallenbande zu saufen pflegte. Aber der Seemann wollte das Mädchen nicht, und er lief in die Nacht hinaus, und sie sahen ihn nie wieder; offenbar hatte er einen Autobus nach Indiana genommen.
    Dean, Marylou und Ed Dunkel brausten die Colfax Avenue entlang ostwärts und hinaus, den Prärien von Kansas entgegen. Gewaltige Schneestürme holten sie ein. In Missouri, bei Nacht, musste Dean beim Fahren, weil die Windschutzscheibe fingerbreit mit Eis bedeckt war, den Kopf, mit einem Schal umwickelt, aus dem Fenster strecken – mit der Schneebrille sah er aus wie ein Mönch, der die Handschriften des Schnees studiert. Er fuhr durch das Land seiner Vorfahren, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Frühmorgens kam der Wagen auf einer vereisten Steigung ins Rutschen und kippte in den Straßengraben. Ein Farmer war bereit, ihnen rauszuhelfen. Sie fielen rein auf einen Tramper, der ihnen einen Dollar versprach, wenn sie ihn bis Memphis mitnehmen würden. In Memphis ging er in sein Haus, suchte trödelnd nach dem Dollar herum und betrank sich dabei; er könne den Dollar nicht finden, sagte er. Sie fuhren weiter, durch Tennessee; die Achsenlager waren von dem Unfall in Mitleidenschaft gezogen. Dean war immer hundertvierzig gefahren; jetzt musste er bei steten hundertzehn bleiben, sonst wäre ihm der ganze Motor den Berg runter davongeschwirrt. In tiefstem Winter durchquerten sie die Great Smoky Mountains. Als sie bei meinem Bruder vor der Tür standen, hatten sie seit dreißig Stunden nichts mehr gegessen – nur Bonbons und Käse-Crackers.
    Sie aßen mit Heißhunger, während Dean, ein Sandwich in der Hand, gebückt um das große Grammophon herumhüpfte und sich eine heiße Bebop-Platte anhörte, die ich gerade gekauft hatte, «The Hunt» mit Dexter Gordon und Wardell Gray, die vor einem johlenden Publikum riesig aufdrehten, was der Platte einen irre phantastischen Sound gab. Die Südstaatler sahen einander an und schüttelten staunend die Köpfe. «Was für Freunde hat Sal da eigentlich?», fragten sie meinen Bruder. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Südstaatler haben nichts übrig für Verrücktheiten, und schon gar nicht für Deans Art der Verrücktheit. Und Dean nahm nicht die geringste Rücksicht auf sie. Deans Verrücktheit war zu einer unheimlichen Blume erblüht. Das merkte ich erst, als er mit Marylou und mir und Ed Dunkel zu einer kurzen Spritztour mit dem Hudson aus dem Haus ging und wir zum ersten Mal allein waren und über alles, was wir wollten, reden konnten. Dean packte das Steuer, legte den zweiten Gang ein, sinnierte eine Sekunde im Anfahren, schien plötzlich eine Entscheidung zu treffen und schoss mit vollen Rohren die Straße hinunter, mit einer wahnwitzigen Entschlossenheit.
    «Alsdann, Kinder», sagte er, rieb sich die Nase und beugte sich vor, um nach der Handbremse zu tasten, ehe er Zigaretten aus dem Handschuhfach nahm, wobei er sich die ganze Zeit hin und her wiegte. «Die Zeit ist gekommen, zu entscheiden, was wir die nächste Woche tun wollen. Ernst, sehr ernst. Ähem!» Er wich einem Maultierkarren aus; ein alter Neger plagte sich darin vorwärts. «Ja!», schrie Dean. «Ja! Seht ihn euch an! Und jetzt denkt mal an seine Seele – nehmt euch Zeit und besinnt euch.» Und er bremste ab, damit wir uns alle umdrehten und uns den tollen alten Knaben ansahen, der ächzend dahintrottete. «O ja, seht genau hin; es wohnen Gedanken in diesem Kopf, oh, ich würde meinen letzten Arm hergeben, sie kennenzulernen, um da hineinzuklettern und herauszufinden, was der arme Teufel über das Rübenkraut in diesem Jahr und über den Schweineschinken denkt. Sal, du weißt nichts davon, aber ich habe einmal ein ganzes Jahr lang, als ich elf war, in Arkansas bei einem Farmer gelebt. Ich musste die schlimmsten Sachen machen, einmal musste ich ein totes Pferd abdecken. Weihnachten dreiundvierzig war ich das letzte Mal in Arkansas, vor fünf Jahren, als Ben Gavin und ich von einem Mann mit einer Flinte verfolgt wurden, dem das Auto gehörte, das wir knacken wollten. Ich sage das alles nur, um euch zu zeigen, dass ich mitreden kann, wenn es um den Süden geht. Ich kenne – will sagen, ich kapiere den Süden, ich kenne ihn in- und auswendig – ich habe kapiert, was du mir in deinen Briefen darüber geschrieben hast. O ja, o ja», sagte er und verlor den Faden, verstummte ganz und jagte den Wagen, tief übers Lenkrad gebeugt, plötzlich wieder auf hundertzehn. Er starrte verbissen vor sich hin.

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