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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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arbeitete mein Vater noch ab und zu in der Klempnerwerkstatt. Ich erinnere mich, dass meine Tante sich aus dem Fenster beugte und rief: ‹Was macht ihr denn da hinter der Garage?› Oh, Marylou, Schatz, hätte ich dich doch damals getroffen! Wow! Wie süß musst du mit neun gewesen sein!» Er kicherte manisch; er schob seinen Zeigefinger in ihren Mund und leckte ihn ab, er nahm ihre Hand und rieb sich damit. Sie saß nur da und lächelte heiter.
    Der lange Ed Dunkel sah aus dem Fenster und führte Selbstgespräche. «Ja, Sir, ich glaubte in jener Nacht, ich sei ein Geist.» Er fragte sich jetzt auch, was Galatea Dunkel in New Orleans zu ihm sagen würde.
    Dean fuhr fort: «Einmal fuhr ich mit einem Güterzug von New Mexico bis nach L. A. – ich war elf Jahre alt, ich hatte meinen Vater an einem Nebengleis aus den Augen verloren, wir waren in einem Landstreicherdschungel, und ich war mit einem Kerl namens Big Red zusammen, während mein Vater besoffen in einem davonrollenden Waggon lag – Big Red und ich erreichten ihn nicht mehr. Monatelang habe ich meinen Vater nicht wiedergesehen. Ich fuhr mit einem langen Güterzug die ganze Strecke bis Kalifornien, es war wie Fliegen, ein Güterzug erster Klasse, ein Wüsten-Clipper. Den ganzen Weg hockte ich auf den Puffern – ihr könnt euch ja vorstellen, wie gefährlich das war, ich war noch ein Kind, ich wusste noch nichts. Ich hatte ein Stück Brot unter dem einen Arm und den anderen um den Bremshebel gehakt. Es ist kein Märchen, es ist wahr. Als ich nach L. A. kam, war ich so ausgehungert nach Milch und Sahne, dass ich mir einen Job in einer Molkerei suchte, und als Erstes trank ich zwei Liter dicke Sahne und musste kotzen.»
    «Armer Dean», sagte Marylou und küsste ihn. Er starrte stolz vor sich hin. Er liebte sie.
    Jetzt rollten wir schon an den blauen Wassern des Golfs entlang, und gleichzeitig fing im Radio eine ganz bedeutende irre Sache an: die Chicken Jazz ’n Gumbo Discjockey-Show aus New Orleans, nichts als irre Jazzplatten, schwarze Musik, und der Discjockey sagte: «Macht euch keine Sorgen, um nichts!» Wir sahen New Orleans in der Dunkelheit vor uns glitzern und waren außer uns vor Freude. Dean rieb sich die Hände am Steuerrad. «Jetzt fängt der Spaß richtig an!» Bei Anbruch der Nacht rollten wir durch die wimmelnden Straßen von New Orleans. «Oh, Mann, es riecht nach Menschen!», schrie Dean und streckte schnuppernd den Kopf aus dem Fenster. «Aaah! Gott! Leben!» Mit einem Schlenker wich er einer Straßenbahn aus. «Ja!» Er ließ den Wagen flitzen und schaute ringsumher nach Mädchen. «Seht euch die da an!» Die Luft war so sanft in New Orleans – sie schien in weichen Kopftüchern daherzuschweben; man roch den Fluss, und man roch wirklich die Menschen, und den Schlamm, und den Sirup, und all diese tropischen Dünste stiegen einem in die Nase – wie weit entfernt waren wir plötzlich vom klirrenden Eis eines nördlichen Winters. Wir zappelten auf unseren Sitzen. «Und sieh dir die an!», rief Dean. «Oh, wie ich die Frauen liebe, liebe, liebe! Frauen sind wunderbar! Ich liebe die Frauen!» Er spuckte aus dem Fenster; er stöhnte; er umklammerte mit beiden Händen seinen Kopf. Große Schweißperlen tropften ihm von der Stirn, vor lauter Aufregung und Erschöpfung.
    Unser Wagen holperte auf die Fähre nach Algiers, und plötzlich dampften wir per Schiff über den Mississippi. «Los, alle aussteigen, jetzt müssen wir den Fluss und die Menschen erleben und den Geruch der Welt atmen», rief Dean. Er suchte nach seiner Sonnenbrille und nach Zigaretten herum und sprang wie ein Springteufel aus dem Auto. Wir folgten ihm. An die Reling gelehnt blickten wir auf den großen braunen Vater der Flüsse hinunter, der wie eine Flut zerbrochener Seelen aus der Mitte Amerikas heranrollt – Baumstämme aus Montana und Schlamm aus Dakota und den Tälern Iowas mit sich führend, Dinge, die in Three Forks versunken waren, wo das Geheimnis im Eis begann. Das verqualmte New Orleans wich auf der einen Seite zurück, und das schläfrige Algiers mit seinen krummen hölzernen Molen schaukelte uns auf der anderen entgegen. Schwarze schufteten an diesem heißen Nachmittag und schürten die Kessel des Fährschiffs so glühend heiß, dass unsere Reifen zu stinken begannen. Dean bestaunte sie und hüpfte in der Hitze hin und her. Er rannte auf dem Deck herum und die Treppe hinauf, und seine ausgebeulte Hose schlotterte ihm um die Hüften. Plötzlich sah ich ihn auf die

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