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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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Teuer war auch seine Frau, die jede Woche Benzedrin im Wert von zehn Dollar schluckte. Ihre Lebenshaltungskosten waren die niedrigsten im ganzen Land: Sie aßen kaum etwas, auch die Kinder nicht, denen das anscheinend nichts ausmachte. Sie hatten zwei wunderbare Kinder: Dodie, acht Jahre alt, und Little-Ray, gerade ein Jahr. Ray watschelte splitternackt über den Hof, ein kleines blondes Regenbogenkind. Bull nannte ihn, in Anlehnung an W. C. Fields, das «kleine Ungeheuer». Bull kam also in den Hof gefahren, holte seine Knochen umständlich aus dem Wagen und kam mit finsterer Miene herüber, mit Brille und Filzhut, in einem abgerissenen Anzug, lang, mager, fremd und wortkarg, und sagte: «Na, Sal, hast du’s endlich geschafft zu kommen. Gehen wir rein und trinken einen.»
    Von Old Bull Lee zu erzählen würde die ganze Nacht dauern, sagen wir vorläufig also nur, er war Lehrer, und es sei hinzugefügt, dass er alles Recht hatte zu lehren, weil er nichts anderes tat, als dauernd zu lernen. Und was er lernte, waren die Fakten des Lebens, wie er es nannte und wie er sie sah, und er lernte sie nicht nur aus Notwendigkeit, sondern aus eigenem Wunsch. Seinerzeit hatte er seine lange, hagere Gestalt quer durch die Vereinigten Staaten geschleppt, durchs halbe Europa, durch Nordafrika, nur um zu sehen, was da los sei; in den dreißiger Jahren heiratete er eine weißrussische Gräfin in Jugoslawien, um sie vor den Nazis zu retten; es gibt Fotos von ihm, mit dem internationalen Kokain-Set der dreißiger Jahre – Typen mit struppigem Haar, die sich in den Armen liegen; es gibt auch andere Fotos von ihm, mit einem Panamahut, wie er auf die Straßen von Algiers blickt; die weißrussische Gräfin hat er nie wiedergesehen. Er war Kammerjäger in Chicago, Barmann in New York, Gerichtsdiener in Newark. In Paris saß er an Cafétischen und sah mürrische Franzosengesichter vorbeiziehen. In Athen blickte er von seinem Ouzo auf und sah, wie er meinte, die hässlichsten Menschen der Welt. In Istanbul schob er sich durch die Mengen der Opiumraucher und Teppichverkäufer, auf der Suche nach den Fakten. In englischen Hotels las er Spengler und den Marquis de Sade. In Chicago wollte er einmal ein türkisches Bad überfallen, zögerte genau zwei Minuten zu lange bei einem Drink, erbeutete schließlich zwei Dollar und musste die Flucht ergreifen. All dies tat er nur um der Erfahrung willen. Seine neuerlichen Studien galten der Drogensucht. Er war in New Orleans gestrandet, wo er mit zwielichtigen Gestalten durch die Straßen zog und sich in Dealer-Kneipen herumtrieb.
    Es gibt eine sonderbare Geschichte aus seiner Studentenzeit, die einen anderen Zug seines Wesens veranschaulicht: Eines Nachmittags hatte er Freunde zum Cocktail in seine nobel möblierte Wohnung eingeladen, als plötzlich sein Frettchen, das er als Haustier hielt, einen eleganten Lackaffen angriff und in den Knöchel biss und alle kreischend zur Tür stürzten. Old Bull sprang auf, packte seine Schrotflinte und sagte: «Es riecht wieder mal die olle Ratte» und schoss ein Loch in die Wand, groß genug für fünfzig Ratten. An der Wand hing ein Foto von einem hässlichen alten Haus auf Cape Cod. Seine Freunde sagten: «Warum hast du das hässliche Ding aufgehängt?», und Bull sagte: «Es gefällt mir, weil es hässlich ist.» So ging es sein Leben lang. Einmal klopfte ich an seine Tür, irgendwo in den Slums an der 60th Street, und er öffnete mir mit einer Melone auf dem Kopf, einer Weste mit nichts darunter und in engen gestreiften Dandy-Hosen; in der Hand hielt er einen Kochtopf, und in dem Topf war Vogelfutter, und er versuchte die Körner zu zerstampfen und Zigaretten daraus zu drehen. Auch machte er Experimente mit Hustensirup, wobei er das Kodein zu einer schwarzen Pampe verkochte – aber es klappte nicht recht. Stundenlang verbrachte er mit seinem Shakespeare – dem «unsterblichen Barden», wie er sagte – auf den Knien. In New Orleans hockte er stundenlang über den Codices der Maya, und auch wenn er sprach, lag das Buch die ganze Zeit da. Einmal fragte ich: «Was passiert eigentlich mit uns, wenn wir sterben?» Und er antwortete: «Wenn du stirbst, bist du tot, so einfach ist das.» Er hatte Ketten in seinem Zimmer, die er, sagte er, für seine Psychoanalyse brauchte; sie hatten mit Narkoanalysen experimentiert und herausgefunden, dass Old Bull sieben verschiedene Persönlichkeiten hatte, eine schlimmer als die andere, und am Ende war er ein tobender Irrer, der

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