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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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durch faulende Zähne. Leute aus seiner Crew saßen auf ausgeweideten Sofas und behelfsmäßigen Stühlen herum, rauchten, schauten sich Comic-Hefte an. Zu jung für das eine, zu alt für das andere. Sie wußte tief in ihrem Herzen, daß er Aids hatte.
    Gracie reichte ihm eine Liste der Autos, die sie in den letzten beiden Tagen entdeckt hatten. Einzelheiten über Zeit und Ort, Fahrzeugtyp und – zustand.
    Er sagte: »Ihr macht gute Arbeit. Wenn meine anderen Leute das auch so machen würden, hätten wir auf der ganzen Welt das Sagen.«
    Edgar blieb natürlich auf Abstand. Sie musterte die Crew, sieben Jungen, vier Mädchen. Graffiti, Analphabetismus, Taschendiebstahl. Sie sprachen ein unfertiges Englisch, weich und gedämpft, mit abgesoffenen Suffixen, und sie hätte ihnen am liebsten ein paar harte Gs hinten in ihre – ing-Formen gehämmert.
    »Ich gebe euch heute nicht das Geld, okay? Ich hab ein paar Sachen am Laufen, da brauche ich Kapital für.«
    »Was für Sachen?« fragte Gracie.
    Retroviren im Blutkreislauf, Akronyme in der Luft. Edgar wußte, wofür all die Buchstaben standen. Azido Thymidin. Human Immunodeficiency Virus. Acquired Immune Deficiency Syndrome. Konntet Gosudarstwennoj Besopasnosti. Jawohl, der KGB gehörte zu dem sich vermehrenden Schwärm, der Zellexplosion der Wirklichkeit, die destilliert und katalogisiert werden muß, um sichtbar zu sein.
    »Ich will hier Heizung und Strom reinholen. Und Kabelfernsehen anzapfen, für wenn die Knicks spielen.«
    Hier an der Mauer glaubten viele, die Regierung würde das Virus verbreiten, unsere Regierung. Edgar wußte es besser. Hinter diesem speziellen Stück Desinformation steckte der KGB. Und der KGB war auch für die Krankheit selbst verantwortlich, ein Produkt der bakteriellen Kriegsführung – hergestellt und über Netzwerke bezahlter Agenten verbreitet.
    Sie hatte aufgehört, diese Dinge mit Gracie zu besprechen, die ihre Augen so weit in den Kopf hochrollte, daß sie wie ein Stück Science-fiction aussah.
    Edgar schaute aus einem Fenster und erblickte jemanden zwischen den Pappeln und Ailanthusbäumen, im überwuchertsten Teil der trümmerübersäten Lots. Ein Mädchen in einer zu großen Strickjacke und gestreiften Hosen wühlte im Gestrüpp, vielleicht nach etwas Eßbarem oder Kleidung. Edgar beobachtete sie, eine schlaksige Kleine, die eine katzenhafte Intelligenz an sich hatte, eine Sicherheit der Bewegungen und Schritte – sie wirkte schlaflos, aber hellwach, sah ungewaschen, aber irgendwie völlig sauber aus, erdsauber und hungrig und flink. Irgend etwas an ihr faszinierte die Nonne, etwas Verzaubertes, die Ausstrahlung von etwas Positivem und Standhaftem.
    Sie winkte Gracie herbei. Genau in dem Augenblick schlüpfte das Mädchen in ein Labyrinth von Autowracks hinein, und als Gracie das Fenster erreicht hatte, war sie nur noch ein Wimpernschlag, verloren in der flachen Ruine eines alten Spritzenhauses.
    »Wer ist dieses Mädchen?« fragte Gracie. »Wer ist da draußen auf den Lots und versteckt sich vor den Menschen?«
    Ismael warf einen Blick auf seine Crew, und einer von ihnen meldete sich zu Wort, ein zu klein geratener Junge in besprühten Jeans, dunkelhäutig und ohne Hemd.
    »Esmeralda. Keiner weiß, wo ihre Mutter abgeblieben ist.«
    Gracie sagte: »Kannst du das Mädchen suchen und dann Bruder Mike Bescheid sagen?«
    »Diese Kleine is echt fix.«
    Zustimmendes Gemurmel.
    »Eine rasende Irre is die.«
    Nickende Köpfe über den Comic-Heften.
    »Warum ist ihre Mutter fortgegangen?«
    »Hängt anner Nadel. Die sind un, na ja, berechenbar.«
    Nur Straße für diese Kinder. Kein Zuhause, keine Schule. Edgar hätte sie gerne in einen Raum mit einer Tafel verfrachtet und sie mit Buchstabieren und Zeichensetzung traktiert, bis die Köpfe rauchten. Ihnen den Baltimore-Katechismus eingetrichtert. Richtig oder falsch, ja oder nein, füllt die Lücken aus.
    Ismael sagte: »Vielleicht kommt die Mutter wieder. Wenn das schlechte Gewissen sie frißt. Aber in Wirklichkeit gibt es Kids, denen geht's besser ohne Mutter oder Vater. Weil die Mutter oder der Vater ihre Sicherheit gefährden.«
    »Fangt sie ein und haltet sie fest«, befahl Gracie der Crew. »Sie ist zu jung, um allein zu sein. Bruder Mike sagt, sie ist zwölf.«
    »Zwölf ist nicht so jung«, meinte Ismael. »Einer meiner besten Maler, er macht wild style, Alter elf oder zwölf. Juano. Ich laß ihn an einem Seil runter, für die komplizierten Buchstaben.«
    Edgar wußte von Ismaels

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