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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Bedrohungen unterschiedlicher, heimtückischer Natur. Und die Fragen wenden sich immer und ewig nach innen.
    Eine Stunde später saß sie in Schleier und Habit auf dem Beifahrersitz eines schwarzen Kleinbusses, der Richtung Süden den Schuldistrikt verließ, an der Monsterschnellstraße vorbei in die verlorenen Straßen, schiere Vergeudung, lauter ausgebrannte Häuser und Seelen, auf die keiner Anspruch erhebt. Grace Fahey saß am Steuer, eine junge Nonne in weltlicher Kleidung. Alle Nonnen des Klosters trugen schlichte Blusen und Röcke, außer Schwester Edgar, die mit Erlaubnis des Mutterhauses die alten Dinge mit den geheimnisvollen Namen anzog, Wimpel, Zingulum, Skapulier. Sie wußte, es gab Geschichten aus ihrer Vergangenheit, wie sie den großperligen Rosenkranz herumzuwirbeln und den Schülern das eiserne Kruzifix über den Mund zu ziehen pflegte. Damals waren die Dinge einfacher. Die Kleidung war vielschichtig, das Leben nicht. Aber Edgar hatte bereits Vorjahren aufgehört, Kinder zu schlagen, schon bevor sie zu alt zum Unterrichten war, als sich das Viertel veränderte und die Gesichter ihrer Schüler dunkler wurden. Aller gerechte Zorn wich aus ihrer Seele. Wie konnte sie ein Kind schlagen, das nicht war wie sie?
    »Die alte Mühle muß mal durchgecheckt werden«, sagte Gracie. »Hörst du das Geräusch?«
    »Bitte Ismael doch, er soll mal reingucken.«
    »Ku-ku-ku-ku.«
    »Er ist der Fachmann.«
    »Das kann ich selber. Ich brauche nur das richtige Werkzeug.«
    »Ich höre überhaupt nichts«, sagte Edgar. »Ku-ku-ku-ku? Das hörst du nicht?«
    »Vielleicht werde ich taub.«
    »Bis du taub wirst, Schwester, bin ich es längst.«
    »Guck mal, wieder ein Engel an der Wand.« Die beiden Frauen schauten auf ein weites Ödland, die Lots genannt, voll von jahrelang übereinandergeschichteten Ablagerungen – das Zeitalter des Hausmülls, das Zeitalter des Bauschutts und der vandalisierten Autokadaver, das Zeitalter der vergammelnden Einzelteile von Gangstern. Unkraut und Bäume wuchsen zwischen den weggeworfenen Dingen. Es gab Hunderotten, auch Falken und Eulen wurden gesichtet. Arbeiter von der Stadt kamen in regelmäßigen Abständen, um Ausschachtungsarbeiten vorzunehmen, und standen dann vorsichtig neben den großen Erdmaschinen, den orangeschlammigen Baggern und Bulldozern, wie Infanteristen, die sich in der Nähe vorrückender Panzer zusammenkauern. Doch bald waren die Arbeiter wieder weg, so machten sie es immer und hinterließen halbausgehobene Löcher, ausrangiertes Material, Styroporbecher, Salamipizzas. Die Nonnen schauten sich all das an. Da gab es Schädlingskolonien, Krater, die mit Rohren, Armaturen und Rigips vollgepfropft waren. Es gab kleine Hügel aus aufgeschlitzten, von wuchernden Kletterpflanzen umrankten Reifen. Schüsse, zurückgeworfen von den niedrigen Wänden demolierter Häuser, sangen bei Sonnenuntergang. Die Nonnen saßen im Kleinbus und schauten um sich. Am hinteren Ende des Geländes ragte ein einsamer Bau empor, ein verlassenes Mietshaus mit einer freiliegenden Wand, an die früher ein anderes Gebäude gegrenzt hatte. An diese Mauer sprühten Ismael Muñoz und seine Crew von Graffitimalern jedesmal einen Gedenkengel, wenn im Viertel ein Kind gestorben war. Engel in blau und rosa bedeckten etwa die Hälfte der hohen Fläche. Name und Alter des Kindes standen in Blockschrift unter jedem Engel, manchmal mit der Todesursache oder persönlichen Anmerkungen der Familienmitglieder, und während der Kleinbus näher kam, konnte Edgar erkennen, was aufgeführt war, Tbc, Aids, Prügeleien, Schüsse aus vorbeifahrendem Wagen, Masern, Asthma, nach der Geburt ausgesetzt – in Müllcontainer geworfen, im Auto vergessen, in Gewitternacht in Mülltüte liegengelassen.
    Diese Gegend hieß die Mauer, teils wegen der Graffitifassade, teils weil sich die hier Lebenden ausgeschlossen fühlten – dieser Zipfel Land war aus der gesellschaftlichen Ordnung gedriftet.
    »Ich wünschte, sie würden endlich mit den Engeln aufhören«, sagte Gracie. »Das ist unglaublich schlechter Geschmack. Für Engel geht man in eine Kirche aus dem vierzehnten Jahrhundert. Diese Mauer macht all das öffentlich, was wir durch unsere Arbeit verändern wollen. Ismael sollte sich mal was Positives zum Hervorheben suchen. Die Stadthäuser, die Gemeindegärten, die die Leute anlegen. Brauchst bloß um die Ecke zu gucken, da siehst du ganz normale Leute zur Arbeit gehen, zur Schule. Geschäfte und Kirchen.«
    »Die

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