Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
Vom Netzwerk:
gleichzeitig umdrehten, wie die Windrädchen in den Fenstern wirbelten.
    Alle Geräusche sammelten sich am dunkler werdenden Himmel.
    Sie glaubte die Touristen zu begreifen. Man reist an einen Ort nicht wegen der Museen und Sonnenuntergänge, sondern wegen der Ruinen, des ausgebombten Geländes, der moosbewachsenen Erinnerung an Folter und Krieg. Notfallwagen stauten sich etwa anderthalb Block entfernt. Sie sah Arbeiter, die U-Bahn-Gitter in blassen Rauchwolken aufstemmten, und sie wußte, sie hätte ein eiliges Gebet sprechen sollen, ein Akt der Hoffnung, drei Jahre Ablaß, aber sie schaute nur zu und wartete. Dann kamen Köpfe und Oberkörper hervor, unterschiedslos, Menschen kamen an die Luft mit verzerrt aufgerissenen Mündern, panischem Keuchen.
    Ein Kurzschluß, ein U-Bahn-Brand.
    Im Rückspiegel entdeckte sie Touristen, die aus dem Bus stiegen und sich die Straße entlangtasteten, auf der Lauer nach Fotos. Und die vorbeikommenden Schulkinder, kaum interessiert – ständig kriegten sie nachts Schießereien vor ihrem Fenster zu hören, der Tod auf der Straße und im Fernsehen war austauschbar. Aber was wußte sie schon, eine alte Frau, die immer noch freitags Fisch aß und sich allmählich nutzlos hier fühlte, wesentlich unwürdiger als Schwester Grace. Gracie war eine Soldatin, eine Kämpferin für den Wert des Menschen. Edgar war im Grunde eine subalterne Sonderbeamtin der Sicherheitspolizei, die eine Reihe von Gesetzen und Verboten zu schützen hatte.
    Sie hatte das Herz eines Raben, klein und unbeugsam.
    Sie hörte das rhythmische Jaulen der Streifenwagen im stehenden Verkehr und sah hundert U-Bahnpassagiere aus den Tunneln emporkommen, begleitet von Arbeitern in phosphoreszierenden Westen, und sie beobachtete die schnappschießenden Touristen und dachte an ihre Reise nach Rom vor vielen Jahren, zum Studium und zur spirituellen Erneuerung, wo sie unter den großen Kuppeln getaumelt und durch die Katakomben und Kirchenkeller gepirscht war, und das waren ihre Gedanken, als die Fahrgäste oben auf die Straße kamen, wie sie in der unterirdischen Kapelle einer Kapuzinerkirche gestanden und über die Mönche nachgedacht hatte, deren Fleisch einst diese Mittelfußknochen und Schenkelbeine und Schädel geziert hatte, haufenweise Schädel in Nischen und versteckten Winkeln, und sie wußte noch, wie sie rachsüchtig gedacht hatte, das sind die Toten, die aus der Erde emporkommen und die Lebenden geißeln und martern werden, um die Sünden der Lebenden zu bestrafen – tot, jawohl, triumphierend.
    Aber will sie das wirklich glauben, immer noch?
    Eine Weile später schlüpfte Gracie auf den Fahrersitz zurück, unglücklich und rotwangig.
    »Hab sie fast erwischt. Wir sind in den dichtesten Teil der Lots hineingerannt, und dann wurde ich abgelenkt, genauer gesagt, wahnsinnig erschreckt, weil nämlich Fledermäuse, ich dachte, ich glaube es nicht, wirkliche Fledermäuse – die einzigen fliegenden Säugetiere der Erde, ja?« Sie machte ironische Flatterbewegungen mit ihren Fingern. »Sie kamen aus einem Krater voller Rote-Säcke-Abfall hervorgeschossen. Krankenhausmüll, Labormüll.«
    »Ich will's nicht hören.«
    »Hunderte und Aberhunderte von toten weißen Mäusen mit steifen, platten Körpern. Man konnte sie wegschnippen wie Baseballkärtchen.«
    »Die Autos fahren an«, sagte Edgar.
    »Hast du dich schon mal gefragt, was mit amputierten Gliedmaßen passiert, nachdem der Arzt sie abgesägt hat? Sie landen hier, an der Mauer. Auf Baulücken abgekippt oder in der Müllverbrennungsanlage verbrannt.«
    »Fahr jetzt.«
    »Und Esmeralda irgendwo in diesem Gebüsch, zwischen diesen Schrottautos . J ede Wette, daß sie in einem Auto wohnt«, sagte Gracie.
    »Die schafft es schon.«
    »Die schafft es nicht.«
    »Sie kann für sich selber sorgen.«
    »Früher oder später«, sagte Gracie.
    »Sie ist schnell. Sie ist gesegnet. Sie wird es schaffen.«
    Gracie schaute sie an und fuhr los und schaute noch einmal, hörte ein Klopfen des Motors und sagte nichts. Edgar hatte noch nie als große Optimistin gegolten. Vielleicht machte Schwester Gracie das ein bißchen Sorgen.
    Und in dieser Nacht, unter der ersten Lage kratzigen Schlafes, sah Edgar die U-Bahnpassagiere wieder, erwachsene Männer, Frauen im gebärfähigen Alter, alle aus den rauchigen Tunneln gerettet, wie sie über Laufplanken krabbelten und über Niedergangstreppen zur Straße hochgeführt wurden – Väter und Mütter, die verlorenen Verwandten wiedergefunden und

Weitere Kostenlose Bücher