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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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kugeldurchlöcherte Autos, ohne Hauben, ohne Türen, mit Rostgeschwüren, ausgebrannte Autos, kopfüber daliegende Autos, Autos mit Leichen, die in Duschvorhänge gewickelt waren, scharrende Ratten in den Handschuhfächern.
    Das Geld, das er den Nonnen für ihre Sucharbeit zahlte, ging für Lebensmittel ans Mönchskloster.
    Als der Kleinbus auf das Haus zufuhr, tastete Edgar am Bauch nach den Latexhandschuhen, die sie sich immer unter den Gürtel klemmte.
    Gracie parkte den Kleinbus, das einzige fahrtüchtige Vehikel weit und breit. Sie befestigte den vinylüberzogenen Stahlreif am Steuerrad und schob das eine Ende in die Schloßverankerung. Zur gleichen Zeit zerrte sich Edgar die Handschuhe über die Hände und spürte die Ambivalenz, den Konflikt. Sicher, jawohl, wissenschaftlich abgeschirmt vor organischer Bedrohung. Aber auch sündige Komplizin eines Prozesses, den sie nur halb begriff, Komplizin der Macht auf der Welt, der Ordnung der Systeme, die religiösen Glauben durch Paranoia verdrängt. Diese synthetischen Handschuhe fühlten sich milchigglatt an, und alles lag darin, Angst und Mißtrauen und Unvernunft. Sie fühlte sich auch vermännlicht, zehnfach kondomisiert – sicher, jawohl, und vielleicht ein bißchen durcheinander. Aber hier war Latex notwendig. Schutz vor hervorspritzendem Blut oder Eiter und den viralen Organismen darin, den submikroskopischen Parasiten in ihren sowjetsozialistischen Eiweißhüllen.
    Die Nonnen stiegen aus dem Kleinbus und näherten sich dem Gebäude.
    Hausbesetzer belegten einige Stockwerke. Edgar brauchte sie nicht zu sehen, um zu wissen, wer sie waren: eine Gesellschaft Bedürftiger, die ohne Wärme, Licht oder Wasser dahinvegetierten. Restfamilien mit Spielzeugen und Haustieren, Junkies, die nachts in den Reeboks der Toten herumstreunten. Sie wußte durch Verinnerlichung, wer sie waren, indem sie all die Botschaften wahrnahm, die die Straßen übersäten. Sie waren Stöberer und Sammler, Dosenpfandeinlöser, die Leute, die mit Papierbechern durch U-Bahnwaggons taumelten. Und Flittchen, die sich bei heiterem Wetter auf dem Dach sonnten, und Männer, die wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und unsittlichen Verhaltens per Haftbefehl gesucht wurden. Und hier waren auch die Heilig-Geist-Rufer zu finden, das wußte sie ganz genau – eine Bande Charismatiker, die durchs oberste Stockwerk sprangen und die Hände rangen, Worte und Nichtworte ausstießen, Messerwunden mit Gebeten behandelten.
    Ismael hatte sein Hauptquartier im zweiten Stock, und die Nonnen eilten die Treppen hoch. Grace neigte dazu, sich unnötigerweise nach der älteren Nonne umzudrehen, die, obwohl ihr alle beweglichen Teile wehtaten, ganz ordentlich Schritt hielt, wispernde Ordenstracht im Treppenhaus.
    »Spritzen auf dem Treppenabsatz«, warnte Gracie.
    Achte auf die Spritzen, umgeh die Spritzen, diese flinken Instrumente der Selbstmißachtung. Gracie konnte nicht begreifen, warum ein Süchtiger nicht darauf achtete, eine saubere Spritze zu benutzen. Dieses Unvermögen ließ sie vor Zorn die Wangen aufpusten. Edgar aber dachte über die Verlockung des heiklen Risikos nach, den kleinen Liebesbiß dieses Libellendolches. Wenn du weißt, daß du nichts wert bist, kann nur eine Wette mit dem Tod deine Eitelkeit befriedigen.
    Gracie klopfte an die Tür.
    »Komm ihm nicht zu nahe«, sagte Edgar.
    »Wem?«
    »Ismael.«
    »Wieso?«
    »Es geht ihm nicht gut.«
    »Ich habe ihn vor drei Tagen gesehen. Ich war hier. Du nicht, Schwester. Woher willst du wissen, daß es ihm nicht gut geht?«
    »Ich kann es spüren.«
    »Ihm geht's gut. Ihm geht's prima«, sagte Gracie. »Ich spüre es schon seit einiger Zeit.«
    »Was spürst du?«
    »Aids«, sagte Edgar.
    Gracie musterte die alte Edgar. Sie schaute die Latexhandschuhe an. Sie schaute der Nonne ins Gesicht, ausgeprägte Züge, vogelhelle Augen. Sie schaute und dachte nach und sagte nichts.
    Eins der Kinder schloß die Tür auf – Schnappschloß, Riegel, Stahlrohr.
    Ismael stand barfuß auf staubigen Dielenbrettern in einem Paar alter, an den Waden hochgerollter Drillichhosen, und einem papageienbedruckten Hemd, das ihm über die Hose hing, er rauchte eine Riesenzigarre und sah aus wie ein sorgloser Mann von den Inseln, der durch die fröhliche Brandung watet.
    »Schwestern, was habt ihr mir mitgebracht?«
    Edgar dachte, daß er trotz seines angejahrten Aussehens noch ziemlich jung war, vielleicht Mitte Dreißig – spärlicher Bart, liebenswürdiges Lächeln, belastet

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