Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
Vom Netzwerk:
Silikonbrüste zuerst ein Leck gehabt hatten, dann gerissen und schließlich explodiert waren, ein Peitschenschlag aus Polymer ins Gesicht des Mannes auf ihr, und nun war sie arbeitslos und lebte in einem Raum von der Größe eines Laufstalls.
    Sie sahen einen Mann, der sich einen Augapfel aus der Höhle geschnitten hatte, weil ein satanisches Symbol darin gewesen war, ein fünfzackiger Stern, und mit diesem Mann sprach Edgar, er hatte sich den Augapfel aus dem Kopf geploppt und die verbleibenden Sehnen mit einem Messer durch trennt, und sie sprach Englisch mit ihm und verstand, was er sagte, obwohl er eine Sprache, einen Dialekt benutzte, den keiner von ihnen je gehört hatte – am Ende hatte er das Auge in der Gemeinschaftstoilette vor seinem Schlupfloch runtergespült.
    Gracie setzte die Crew vor ihrem Haus ab, gerade als ein Bus vorfuhr. Was soll das denn, ist es zu fassen? Ein Reisebus in Karnevalsfarben, und auf dem Streifen oberhalb der Windschutzscheibe ein Schild mit der Aufschrift »South Bronx Surreal«. Gracie atmete heftiger. Etwa dreißig Europäer mit umgehängten Kameras traten scheu auf den Bürgersteig vor den verrammelten Geschäften und geschlossenen Fabriken, und sie starrten über die Straße auf das verlassene Mietshaus in mittlerer Entfernung.
    Gracie lief fast Amok, sie steckte den Kopf aus dem Fenster des Kleinbusses und schrie: »Das ist nicht surreal. Es ist real, wirklich echt. Euer Bus ist surreal. Ihr seid surreal.«
    Ein Mönch fuhr auf einem altersschwachen Fahrrad vorbei. Die Touristen sahen ihm zu, wie er in die Pedale trat. Sie hörten Gracie zu, die sie anschrie. Sie sahen einen Mann vorbeikommen, der batteriebetriebene Windrädchen verkaufte, grellfarbige Mühlenflügel, die an Stäben befestigt waren – ein älterer Schwarzer mit gelbem Schädelkäppi. Sie sahen den Dschungel aus Ailanthusbäumen und die Blechhaufen der abgewrackten Autos, und sie schauten sich die fünf Stockwerke hohe Fläche mit den gemalten Engeln an, über deren Cherubsköpfen Textzeilen schwebten.
    Und Gracie brüllte: »Brüssel ist surreal. Mailand ist surreal. Das hier ist real. Die Bronx ist real.«
    Eine Touristin kaufte ein Windrad und stieg wieder in den Bus. Gracie zog brummelnd ab. In Europa tragen die Nonnen Hauben, die aussehen wie Strandhäuser mit freitragenden Dächern. Das ist surreal, sagte sie. Nicht weit von der Mauer bildete sich ein Verkehrsstau. Die beiden Frauen saßen da und warteten. Sie beobachteten Kinder, die auf dem Heimweg von der Schule Kokosnußeis aßen. Zwei Tische auf dem Bürgersteig – Gratiskondome auf dem einen, Gratisspritzen auf dem anderen.
    »Kann schon sein, daß er schwul ist. Aber das heißt doch nicht, daß er Aids hat.«
    Schwester Edgar sagte nichts.
    »Na gut, diese Gegend ist eine Aidskatastrophe. Aber Ismael ist clever, vorsichtig, safe.«
    Schwester Edgar schaute aus dem Fenster.
    Ein Getöse erhob sich ringsum, verdrießliche Hupen und Martinshörner und das große Saurierbrüllen der Feuerwehrsirenen.
    »Schwester, manchmal frag ich mich, warum du all das auf dich nimmst«, sagte Gracie. »Du hast dir deine Ruhe und deinen Frieden verdient. Du könntest auf dem Land leben und Entwicklungsarbeit für den Orden leisten. Wie gern würde ich mit einem Krimi im Rosengarten sitzen, zu meinen Füßen den alten Pepper.« Old Pepper war der Kater im Mutterhaus auf dem Land, weiter nördlich im Staat New York. »Du könntest mittags am Weiher picknicken.«
    Edgars freudloses inneres Grinsen schwebte irgendwo hinten in der Nähe ihres Gaumens. Sie sehnte sich nicht nach einem Leben auf dem Land. Dies war die Wahrheit der Welt, genau hier, hier fühlte ihre Seele sich zu Hause – und sie selbst, sie sah sich, das verschreckte Kind, das dem realen Terror der Straße entgegentreten mußte, um die schleichende Zerstörung in seinem Innern zu heilen. Wo sollte sie sonst ihre Arbeit tun als unter der kühnen, aberwitzigen Mauer von Ismael Muñoz?
    Dann war Gracie raus aus dem Kleinbus. Sie war raus aus dem Gurt, aus dem Bus, sie rannte die Straße hinunter. Die Tür stand offen. Edgar begriff sofort. Sie drehte sich um und sah das Mädchen, Esmeralda, einen halben Block vor Gracie, auf die Mauer zulaufen. Gracie stürmte in ihren klobigen Schuhen und ihrem Schreckschraubenrock zwischen den Autos durch, folgte dem Mädchen um eine Ecke, wo der Reisebus im Verkehr festsaß. Die Touristen beobachteten die rennenden Gestalten. Edgar konnte sehen, wie sich ihre Köpfe

Weitere Kostenlose Bücher