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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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früher Karriere als Graffitimeister, er stellte eine Legende der Spraykunst dar. Vor fast zwanzig Jahren war er der infame Moonman 157 gewesen, und er erzählte den Nonnen, wie er in der ganzen Stadt U-Bahnwagen signiert hatte, auf jeder Linie fuhr sein tag, und Edgar glaubte, daß er damals auch angefangen hatte, mit Männern zu schlafen, als Teenager, in den Tunnels. Sie hörte das aus den Pausen in seiner Stimme.
    »Wann kriegen wir unser Geld?« fragte Gracie.
    Ismael stand da und hustete, und Edgar wich an die hintere Wand zurück. Sie wußte, sie hätte netter zu dem Mann sein sollen. Aber bei tödlichen Krankheiten war sie nicht sentimental. Sterben war nur ein verlängerter Aschermittwoch. Sie hatte vor, ihrem eigenen Sterben mit unversehrten Sinnen gegenüberzutreten, es zu ergreifen, endlich kennenzulernen, sich dem Geheimnis zu öffnen, das die anderen als etwas Monströses und Unaussprechliches verkennen.
    Die Leute von der Mauer sagten gerne, Wenn die Hölle zu voll wird, laufen die Toten durch die Straßen.
    So weit würde es aber etwas früher kommen, als alle dachten.
    »Nächstes Mal hab ich bißchen Geld«, sagte Ismael. »Von diesen Autos bleibt bei mir praktisch nix hängen. Mein Anteil ist sehr Minimum. Ich will mal ins Ausland expandieren. Wundert euch nich, wenn mein Schrott mal in Nord, na ja, Korea landet.«
    Gracie machte Witze darüber. Aber Edgar konnte das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie war eine Nonne des Kalten Krieges, die einst ihre Zimmerwände mit Stanniol verkleidet hatte, zum Schutz gegen radioaktive Strahlung. Die flüchtige Infiltration, tief und glatt. Nicht daß sie die Vorstellung eines Krieges nicht spannend gefunden hätte. Selbst jetzt beschwor sie den großen Knall noch oft herauf, obwohl die UdSSR in alphabetischer Reihenfolge zusammengebrochen war, die massiven Buchstaben umgestürzt wie kyrillische Statuen.
    Sie gingen nach unten zum Kleinbus, die Nonnen und fünf Jugendliche, und begannen mit der Verteilung des Essens, zuerst an die schlimmsten Fälle aus den Sozialwohnungen gleich in der Nähe der Mauer.
    Sie fuhren mit dem Fahrstuhl und gingen die langen Korridore entlang. Unbekanntes Leben in jedem der Zimmer aus Bauplatten. Schwester Grace glaubte, Gottes Schöpferkraft zeige sich darin, daß man selbst über das Leben des armseligsten Ausgestoßenen keine Mutmaßungen anstellen konnte, nicht mal im entferntesten.
    Sie sprachen mit zwei blinden Frauen, die zusammenlebten und sich einen Blindenhund teilten.
    Sie sahen einen Mann mit Epilepsie.
    Sie sahen Kinder, die Sauerstofflaschen neben dem Bett stehen hatten.
    Sie sahen eine Frau im Rollstuhl, die ein »Fuck New York«-T-Shirt trug. Gracie sagte, die würde das Essen, das sie ihr gaben, garantiert gleich gegen Heroin eintauschen, den dreckigsten Stoff der Straße. Die Crew schaute sich das wütend an. Gracie reckte das Kinn vor, kniff die blassen Augen zusammen und reichte der Frau das Essen. Darüber gab es Streit, Schwester Grace gegen alle anderen. Dabei fand nicht mal die Rollstuhlfrau selbst, daß sie das Essen kriegen sollte.
    Sie sprachen mit einem Mann, der Krebs hatte; er versuchte, Schwester Edgars Latexhände zu küssen. Sie wich schleunigst zur Tür zurück.
    Sie sahen fünf kleine Kinder, auf die ein Zehnjähriger aufpaßte, alle auf einem Bett zusammengeknäult, daneben noch zwei Säuglinge in einer Wiege.
    Im Gänsemarsch gingen sie die Korridore entlang, eine Nonne vorweg und eine hinterdrein, und Edgar dachte an all die Säuglinge in der Vorhölle, ungetauft, an die Babys im Halbnichts, die Nichtbabys der Abtreibung, eine kosmische Wolke zermatschter Föten, die in den Ringen des Saturn umhertrieben, und an die ohne Immunsystem geborenen Babys, an die von Computern großgezogenen Schutzzeltkinder und die süchtig geborenen Babys – sie sah sie ständig, cracksüchtige Neugeborene von drei Pfund, die aussahen, als kämen sie direkt aus einer Bauernsage.
    Sie verteilten Essen, und Edgar sprach kaum. Aber Gracie. Gracie gab Ratschläge. Edgar war nur anwesend, eine uniformierte Aura in Regimentsschwarzweiß.
    Sie gingen die Korridore entlang, drei Jungen und zwei Mädchen, die einen Truppenkörper mit den Nonnen bildeten, eine einzige kreuzlahme Gestalt mit vielen beweglichen Teilen, und sie verteilten ihr letztes Essen im Keller eines Mietshauses innerhalb der Mauer, wo die Leute Miete für Sperrholzkabuffs bezahlten, die schlimmer waren als Knastzellen.
    Sie sahen eine Hure, deren

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