Unterwelt
versammelt, am Oberkörper herausgezogen, mit rausgerutschtem Hemd, an die Oberfläche geführt von kleinen, gesichtslosen Figuren mit phosphoreszierenden Flügeln.
Wochen später griff Edgar zu einem Exemplar von Time, als sie gerade das Refektorium verließ, und da sah sie es, ein großes Farbfoto von einer weißhaarigen Frau, die in einem Regiestuhl unter dem alten, verwitterten Flügel eines Luftwaffenbombers saß. Und sie erkannte den Namen wieder, Klara Sax, weil sie alles wiedererkannte, weil die Leute ihr Namen zuflüsterten, weil sie das Rascheln der Informationen auf den staubigen Korridoren des Klosters spürte oder im Lagerraum der Schule, der nach Bleistiftholz und Aufsatzheften roch, weil sie irgendein dunkles Wissen witterte, das im Rauch des schwingenden priesterlichen Weihrauchs schwebte, weil die Dinge für sie durch das Knarren alter Dielenbretter und den Geruch von Kleidern bestimmt wurden, einen klammen Herrenkamelhaarmantel, weil sie Neuigkeiten und Gerüchte und Katastrophen in die makellosen Baumwollporen ihres Habits und ihres Schleiers einsog.
Alle Verbindungen intakt. Die Frau früher mit einem Mann aus der Gegend verheiratet. Der Mann Schachtutor von einem ihrer ehemaligen Schüler. Der Junge mit ewig schief hängendem Schlips, Matthew Aloysius Shay, Fingernägel bis aufs Fleisch abgekaut, einer ihrer aufgeweckteren Jungen, männlicher Eltern teil abgängig.
Sie wußte Dinge, jawohl, Schach, all diese Schichten slawischer List, diese Verstrickungen und Tricks. Sie wußte, daß Bobby Fischer sich alle Füllungen aus den Zähnen hatte entfernen lassen, als er 1972 gegen Boris Spassky spielte – das leuchtete ihr vollkommen ein –, damit der KGB ihn nicht durch Radiowellen ins Amalgam seiner Backenzähne kontrollieren konnte.
Sie legte die Zeitschrift in ihren Schrank, zu den alten Fanzeitschriften, die sie seit Jahrzehnten nicht mehr las, seit sie den Glauben an Filmstars verloren hatte.
Den Glauben aus Mißtrauen und Unwirklichkeit. Den Glauben, der Gott durch Radioaktivität ersetzt, durch die Macht der Alpha-Partikel und der allwissenden Systeme, die sie formen, der endlosen, eingepaßten Bindeglieder.
In jener Nacht beugte sie sich über das Waschbecken in ihrem Zimmer und reinigte einen Bausch Stahlwolle mit Desinfektionsmittel. Dann benutzte sie den Bausch, um eine Scheuerbürste abzuschrubben, jede einzelne Borste. Nur das ursprüngliche Desinfektionsmittel hatte sie mit nichts Stärkerem als Desinfektionsmittel gereinigt. Das hatte sie unterlassen, weil die Regression unendlich war. Und die Regression war unendlich, weil sie so heißt: unendliche Regression. Unverkennbar, wie die Angst sich jenseits der aufdringlichen Auswüchse der Materie ausbreitet, in die erhabenen Regionen dringt, wo die Worte mit sich selber spielen.
Sie putzte und betete.
Sie sagte kurze Gebete, während sie arbeitete, schlichte fromme Bitten, eiaculationes genannt, für die der Ablaß eher Tage als Jahre betrug.
Sie betete und dachte nach.
Sie ging zu Bett, lag wach und dachte an Esmeralda. Sie hatten sie mehrfach entdeckt, aber nie einfangen können. Weder Gracie noch die Mönche noch die flinken Graffitimaler aus Ismaels Crew. Edgars Gefühl von Sicherheit verlor allmählich an Überzeugung.
Sie hieß jeden Hauch von Wissen willkommen, der sie anwehte, und wenn da auch ein Element der Unruhe war, um so besser, aber diesmal erschütterte die Vorahnung sie zutiefst. Sie spürte etwas dort draußen an der Mauer, eine undeutliche, schlurfende Gefahr, die das Mädchen auf seinem wendigen Weg durch Autowracks, weggeworfene menschliche Glieder und Hektar liegengebliebenen Mülls erwartete.
Gnadenreiche, bitt für uns. Dreihundert Tage.
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9
N ick suchte nach der Zeitschrift, die er sich für die Reise nach Houston aufgehoben hatte. Er legte sich bestimmte Arten von Lektüre für Geschäftsreisen beiseite, Sachen, die er sonst aus Zeitmangel nicht anschaute, Zeitschriften, die sich stapelten und ihn nervten und am entsprechenden Tag auf den Bürgersteig wanderten. Ein Geräusch setzte an, ein Weltensummen – man hörte es, sobald man sein teppichausgelegtes Haus verließ und zum Flughafen rausfuhr. Er wollte in dem einstimmigen, durchgehaltenen Brummen, das für den Geschäftsreisenden jede Meile seines Tages prägt, etwas Freundliches lesen.
Die Zeitschrift war Time, etwa einen Monat alt. Er fand sie schließlich im Badezimmer, verstaut in einem Korb, den Marian meist mit Hochglanzbänden
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