Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
Vom Netzwerk:
ihn, wurde geradezu gewalttätig. Er und Eleanor kamen durch die Dolomiten und Osterreich, machten nur eine kurze Stippvisite in der nordwestlichen Ecke von Ungarn, und das Zeug kam nur so aus ihm herausgekracht, geräuschvoll und unglaublich dunkel. Aber vor allem beunruhigte ihn der Geruch. Er hatte Angst, Eleanor könnte es merken. Ihm war klar, daß es vermutlich zu jeder jungen Ehe gehörte, den Geruch des anderen zu riechen, daß man es ein für allemal hinter sich bringen mußte, damit man mit seinem Leben vorankam, Kinder kriegen, ein Häuschen kaufen, an jedermanns Geburtstag denken, einen Ausflug über den Blue Ridge Parkway machen, krank werden und sterben. Doch in diesem Fall mußte der Ehemann äußerste Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, denn diese Ausdünstungen waren schimpflich, intensiv und zutiefst intim, und sie schienen etwas Furchtbares über ihren Träger auszusagen.
    Sein Geruch war ein Geheimnis, das er vor seiner Frau bewahren mußte.
    Sie reisten in die Tschechoslowakei, wo die Toiletten so schwach spülten, daß er nach dem Spülen erst mal warten mußte, dann noch mal spülen, und er riß das Fenster auf und wedelte mit Handtüchern und fühlte sich schuldig, in der Falle. In den Straßen war etwas Kaltes, Hartes, eine Spannung, die man atmen konnte, viele Verhaftungen, Menschen vor Gericht. Die Frischvermählten debattierten mit einem Hüttenarbeiter in einem Café, er war stolz auf den Rauch und Dreck, der über der Landschaft hing, das war Fortschritt, das war Macht und Schwung der Industrie – je dunkler der Himmel und je mehr Landbesitzer im Gefängnis, desto größer die Zukunft des sozialistischen Staates.
    Wer sind die, dachte Marvin, daß es mich wild macht, wenn ich sie nicht davon überzeugen kann, daß sie unrecht haben?
    Sein Stuhl dampfte zunehmend, während sie nordwärts durch Ostpolen reisten. Sie debattierten mit Arbeitern in einer Stehkneipe, Männern beim morgendlichen Krug Bier. Sie debattierten mit einer Frau, die an einer alten Rechenmaschine Fahrkartenpreise ausrechnete. Marvin kehrte wegen einer Zeitung, die er liegengelassen hatte, in eine Toilette zurück, er hatte vergeblich in einer Warschauer Tageszeitung nach Baseballergebnissen Ausschau gehalten, und er war überrascht, wie heiß es in dem kleinen Raum war, was für eine dampfige Atmosphäre er dort hinterlassen hatte, schwer und feucht, eine Luftmasse drückenden Gestanks – so viel Energie, allein von seinem Stuhl verstrahlt.
    Zum Glück ging Eleanor jeden Tag zuerst. Weil sie so etwas nämlich nicht ausgesetzt werden durfte, ein englisches Mädchen mit Haaren, die fast blond waren. Er achtete sorgfältig darauf, daß sie niemals an einer Toilette vorbeikam, die er gerade benutzt hatte.
    »So, weiter gehe ich nicht«, verkündete sie nun.
    »Wir sind noch nicht an der Baustelle.«
    »Ich sterbe an Atemnot, wenn ich noch einen Schritt weitergehe.«
    Hundert Meter vor ihnen war eine stillgelegte Straßenbaustelle, unbemannte Bulldozer und Kipplaster standen da, die Straßendecke aufgebrochen und in Schutt, keine Menschenseele in Sicht außer einer einsamen Gestalt, die in einem Postsack schlief, einer dieser verschmutzten Männer, die Marvin neuerdings überall sah – wo haben die sich bloß die ganze Zeit versteckt?
    »Ich gehe nur noch zehn, zwanzig Meter weiter«, sagte er zu ihr. »Will bloß sehen, wo das herkommt, wahrscheinlich ein Rohrbruch, aus reiner Neugier.«
    Er mußte die Erinnerung ebenso vor ihr verbergen wie damals den Geruch. Und die Kraftanstrengung beim Ausscheiden wurde schlimmer, sie hatten ihre Pässe, sie hatten ihre Visa, sie fuhren nach Pinsk, sie fuhren nach Minsk, er grunzte auf dem Sitz, bis alle Elemente hervorgebracht waren – Erde, Luft, Feuer und Wasser.
    Je tiefer sie ins Kommunistenland vordrangen, desto höllischer wurde sein Stuhl.
    Wohin sie auch fuhren, ein Intourist-Führer begleitete sie. Ein Führer setzte sie ab, ein anderer erwartete sie, jemand spähte kurz in ihr Gepäck, ein Führer vergewisserte sich, daß sie auch nicht einen flüchtigen Blick auf gewisse heikle Gebäude warfen, auf Flüsse mit Staudämmen hundertfünfzig Kilometer stromaufwärts, auf Straßen, die zu Militärgeländen in tausendfünfhundert Kilometern Entfernung führten. Es war, als teilte man jeden Atemzug mit seinem persönlichen Polizisten. Selbst das Wetter war ein Geheimnis, nicht in der Zeitung veröffentlicht und niemals lauter als flüsternd erwähnt.
    Er hatte Namen und Adressen

Weitere Kostenlose Bücher