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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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und sprach mit einem Dutzend Leuten und folgte einer Spur, die nach Gorki führte, wo ein Vetter x-ten Grades ihn in eine Straße mit unfertigen Häusern schickte, und dort fanden sie Avram, zum ersten Mal standen er und Marvin sich gegenüber, er lebte in einer winzigen Wohnung mit seiner zweiten Frau und seinem zweiten, dritten und vierten Kind. Sie fielen sich in die Arme und weinten, vielleicht war das echt, vielleicht auch effekthascherisch, sie sprachen Brocken Russisch, Englisch und Jiddisch, und schon bald stritten sie sich heftig. Avram war ein überzeugter Kommunist mit buschigen Brauen, und er spie kleine Wortspritzer der Verachtung auf die USA, das System ist korrupt, wir werden euch frühstücken, ihr seid eine Wieheißtesgleich-Kultur, eine Mickymaus-Kultur, und in dieser Nacht mußte Marvin der Hoteltoilette einen Notbesuch abstatten, wo er eine Brandmauer chemischer Abfälle absonderte. Der Geruch, der ihn umgab, war getränkt von was, von Geopolitik, und er wedelte fünf Minuten lang mit einem Handtuch und stemmte das Fenster auf, es fiel immer wieder zu, klemmte ein zusammengerolltes Exemplar der Prawda dazwischen, er suchte immer noch nach Baseballergebnissen, und dann ging er in ihr Zimmer, stand da und beobachtete Eleanor im Schlaf – sie kam aus einer freundlichen, ländlichen Gegend und hätte an seinem Höllengestank mit Leichtigkeit zugrunde gehen können.
    Er trat an den Rand des Bauschutthaufens und stellte fest, daß der Geruch nicht von hier kam. Der Geruch war immer noch stark, erinnerte ihn voll und ganz an seine sowjetische Erfahrung, nur weniger farschtúnken als sein persönlicher Ausstoß, etwas abgemildert, und er kam nicht aus einem Rohrbruch in der Kanalisation oder einer städtischen Obdachlosentoilette.
    Dann sah er das Schiff. Es lag weiter vorn an einem entfernten Pier, zwischen einer Reihe leerer Anlegestellen und einem breiten Becken, und es wirkte verlassen, Brücke und Deck menschenleer, Rostflecken liefen an den Seiten herab, die Schornsteine waren bedeckt mit Graffiti in Sprachen, die er nicht erkannte, und mit fremden Schriftzeichen.
    Er drehte sich um und schaute Eleanor an. Sie hatte die Angewohnheit, ihre Ungeduld zu zeigen, indem sie ihren Körper kurz einknicken ließ, den Kopf schief hielt und halb schlaff wurde, wobei ihr Mund ein gähniges Oh formte.
    Der Name des Schiffes war unlesbar, von Rost und Graffiti überdeckt. Was für ein jammervolles Ding, so ein ozeantauglicher Dampfer, der die Welt zustinkt wie tragbare Toilettenhäuschen in einem Stadion.
    Marvin und Avram stritten sich drei Tage lang. Sie aßen in der kleinen, ungeheizten Wohnung, wo man den Hahn vom Küchenbecken abschrauben und durch den Flur ins Bad tragen mußte, wenn man baden wollte, denn die Bauarbeiten an diesem Wohnblock hatten an einem bestimmten Datum aufgehört, fertig oder nicht. Die beiden Männer erzählten sich viele Familiengeschichten, aber stets mit zänkischem Unterton, der in Abständen zu offener Beleidigung ausartete, Wir und Die, und es zermürbte Marvin, diese Dinge von einem derart selbstbewußten Mann zu hören, der ist doch ein völliger Niemand, ein kleiner Bursche, der sich beim Sprechen hochreckt, mit zwei falschen Zähnen aus rostfreiem Stahl, der ist die blankpolierteste Armatur weit und breit. Sie hatten die Wohnung ohne Fenster bekommen. Avram mußte sie selber einbauen, die Scheiben kamen aus der Tafelglas-Fabrik, wo er arbeitete, dermaßen dünnes Glas, daß man beim Reden Abstand halten mußte. Ein Wort mit zu vielen Konsonanten, und das Glas wäre womöglich gesprungen.
    Er sagte zu Marvin, Wir bauen größere Bomben, als der Westen sich je träumen läßt. Deshalb zerbrechen die Fenster so leicht.
    Ja, der Gedanke verbitterte Marvin, daß ein Mann unter diesen Umständen lebte, einen Küchenwasserhahn hin und her tragen mußte, den Auslauf und die beiden Griffe, aber nur aus dem kalten Hahn kommt Wasser, die Familie an den Wänden übereinandergestapelt, so eng ist es, und er ist so überheblich und aufgeblasen, das war es, was Marvin rasend machte, wie der Kerl ohne die grundlegendsten Dingenskirchen klarkommt, Eleanor kennt das Wort, die Sachen, die zum materiellen Komfort beitragen – sie sagt es so vornehm.
    Jetzt rief sie ihm zu: »Komm da weg.«
    Und auf dem Rückweg nach Westeuropa kehrte sein Verdauungssystem langsam wieder zu normalem, ballaststoffreichem Stuhl zurück, gesund und mild.
    Und sie saßen in einem Zug in der Schweiz, einem

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