Unterwelt
normalen, neutralen Land, fuhren durch Tunnels und an mondbeschienenen Seen vorbei, und Marvin hörte eine vertraute Stimme weiter vorn, ein Radio knisterte und quakte, und er folgte dem Geräusch bis zum vorderen Ende des Waggons, wo zwei GIs über einem kleinen, tragbaren Radio mit einer Krüppelantenne die Köpfe zusammensteckten und Russ Hodges auf AFN hörten, sein Bericht von dem Spiel wurde jedesmal unterbrochen, wenn der Zug in einen Tunnel fuhr, und da war Marvin, als Thomson den Home Run schlug, er raste in den Alpen durch einen Berg.
Eleanor war gerade aus der Dusche, als Marvin hereinkam und das Zimmer mit seiner Laune zum Einstürzen brachte. Sie stand da, mit rosa Zehen, in ein Handtuch gehüllt, und schaute ihn an.
»Das Schiff ist eingelaufen. Lucky Argus. Pier 7. Auf die Minute genau, wie vorhergesagt.«
»Aber Wainwright«, sagte sie.
»Nicht an Bord.«
»Steh gerade.«
»In Vancouver abgehauen.«
»Weiß jemand wohin?«
»Hat auf irgendeinem anderen Schiff angeheuert. Richtung Norden. Dieser Chuckie hat's mit dem kalten Wetter.«
»Du wirst ihn finden.«
»Macht nichts.«
»Macht wohl was. Ich habe immer gedacht, du spinnst. Aber jetzt verstehe ich dich. Ja, du spinnst, aber es steckt eine gewisse Logik dahinter. Ein kleiner kindlicher Klecks Logik. Eine kleine Einschlafsache. Du mußt die Geschichte zu Ende erzählt kriegen. Lieber Marvin. Ohne das letzte Bindeglied zu dem Baseball weiß man doch nicht ganz genau, wie die Geschichte ausgeht. Und was nützt schon eine Geschichte ohne das Ende? Obwohl wir in diesem Fall ja nicht das Ende brauchen, sondern den Anfang.«
Er mochte sie im Handtuch. Sie waren sich gegen Ende des Krieges begegnet, guten Tag auf Wiedersehen, hatten sich aber geschrieben, sie war Luftschutzwart, mit einer Stablampe, so hieß das bei den Engländern, und er war Quartiermeister und verteilte für D-Day Kondome an die Truppen, die sie an den Gewehrmündungen befestigten, um Sand und Wasser abzuhalten, und er mochte sie immer noch im Handtuch oder im Slip, siebenundzwanzig Jahre bis zum heutigen Tag verheiratet.
Er saß in Shorts auf der Bettkante und zog seine gerippten Socken aus. Sie würden es machen wie Touristen in der Werbung, ehelicher Beischlaf in einem hübschen Hotel. Sie hatten ein Zimmer mit Aussicht auf eine Aussicht. Aus ihrem Fenster konnten sie über einen Hof auf Bürotürme und das Spiegelbild der Wolken im Panoramafenster des Hotelrestaurants schauen.
»Marvin, hast du vor, das zu tragen?«
Sie meinte sein Toupet.
»Ich brauche es für mein Selbstbild.«
Er brauchte es außerdem, weil es seine großen Ohren und die sorgenvolle Marvin-Nase entschärfte. Er wollte gut aussehen für sie, auch wenn sie fand, es machte nichts. Heute abend würde er sein bestes Hemd anziehen, mit derart französischen Manschetten, daß er am liebsten die Wieheißtesgleich gesummt hätte.
»Du bist mein Mann, mit oder ohne.«
Das sagte sie mit einem halbgespielten Zucken um den Mund, und er fühlte sich, als gehörte ihm die Welt.
Sie ließ das Handtuch fallen und stützte ein Knie aufs Fußende des Bettes. Sie waren immer noch in ihrem Honeymoon, scheu, aber begierig, und Marvin mit seiner Brooklynigkeit, seiner Religion der skeptischen Reaktion – erst jetzt begriff er allmählich, wie schwer es war, nach all den Jahren am sentimentalen Mythos ihrer Verschiedenheit festzuhalten, dem Bild, das er sich aus ihrem Akzent und ihrem Teint zusammengebastelt hatte. Er erblickte seine Eleanor Wahrheit um Wahrheit – daß ihre Gelüste den seinen ebenbürtig waren, daß ihr geschäftlicher Ehrgeiz größer war als seiner, daß ihr Hauptehrgeiz sich auf Amerika richtete, eine Tatsache, die ihm glatt entgangen war, auf die Dinge, die Orte, das strahlende Summen der Produkte in den Regalen, den Sonnensturm der Gunst des Schicksals.
Da lagen sie in einem fremden Bett in Kalifornien, wie verdreht ist das Leben, wie ungewiß seine Wendungen, ein englisches Mädchen in seinen Armen, rosig und unschuldig, auch wenn sie's nicht ist, und Marvins Polymer-Haarteil fest auf seinem Kopf.
Sie wollte japanisch, aber das war noch nicht genug. Sie mußten in ein Lokal gehen, bei dem »Tatami-Sitze« im Führer stand.
Marvin dachte, wenn er hundert Jahre lang gelebt hätte, bevor er Eleanor begegnete, dann hätte er jeden Tag dieselben drei oder vier Dinge getan, immer in derselben Reihenfolge, und sobald er Eleanor begegnete, im Alter von hundertundeins, würde er auf dem Boden
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