Unterwelt
unwichtig.
Der Achtelindianer, Marvin hat den Stamm vergessen, der ihn zu der früheren Frau brachte.
Der Schock des Lebens anderer. Die Wahrheit eines anderen Lebens, der Schlag, die Wirkung.
Chuckie bei der Luftwaffe, in Grönland, in Vietnam, und dann unerlaubtes Entfernen von der Truppe, AWOL, was ist das noch, ein Akronym, er geriet ins Trudeln und ließ sich einen Bart wachsen und zeugte ein Kind und nannte es Dakota.
Wo nämlich Marvin die Exfrau fand, ganz zufällig, in Rapid City, wie sie in einem Swimmingpool mit 1,20 tiefem Wasser Kranke herumführte.
Der Schock, die Macht eines gewöhnlichen Lebens. So etwas könnte man selbst in einer Computerzentrale mit einem staubfreien Raum nicht erfinden.
»Marvin, du weißt, was ich gleich sage.«
»Der Zeitunterschied beträgt drei Stunden. Ich glaube, ich kann nicht warten.«
»Heb beim Gehen die Füße hoch. Du bist ein gesunder Mann, der versucht, krank zu wirken.«
»Das ist Geplapper wie auf dem Lokalsender.«
Spitzfindigkeiten und Nörgelei waren nicht ihre Sache, sie sprach freundlich mit ihm, sie war besser, als er's verdient hatte, schrieb ihm Postkarten, wenn sie ihre Familie besuchte – das muß man sich mal vorstellen, eine Postkarte von seiner Frau zu kriegen.
Dann hielt sie plötzlich inne, wurde stocksteif in ihrem glänzenden Regenmantel.
»Was rieche ich da?«
Marvin begriff allmählich, warum der Geruch so unwiderstehlich war. In gewisser Weise kam er von ihm. Er erinnerte sich an die Europareise, die sie sechs Jahre nach dem Krieg gemacht hatten, er und Eleanor, frischverheiratet, ein Mädchen von bescheidener Herkunft, und ihre lange Hochzeitsreise, so billig wie möglich, langsame Züge und alte Hotels, aus denen jede Bequemlichkeit herausgesaugt war, aber sie waren auch mit einem Auftrag unterwegs, der Marvins Familie viel bedeutete. Er sollte seinen Halbbruder Avram Lubarsky finden – in der Roten Armee gedient, vor Leningrad verwundet, vor Stalingrad verwundet, vor Grodno in den Zeh geschossen, unter schwerem Stuka-Feuer über die Wolga gerudert, von den Deutschen gefangengenommen und wieder entkommen, mit Zeitungen statt Schuhen gen Süden geflohen, in den Karpaten eine Zigeunerin geheiratet, Weißfisch aus dem Schwarzen Meer gegessen und irgendwo im Ural verschwunden.
Lauter russisches Zeug, und heute war Marvin hier und auf der Suche nach einem Baseball. Und er hatte keineswegs vor, sein Hauptanliegen herunterzuspielen. Es hatte seinen eigenen epischen Charakter, seine Geschichte aus Comebacks und schönen Erinnerungen und Familienpicknicks und vermückten Abenden auf der hinteren Veranda und Hoffnungen, die aufsteigen und abstürzen, und schließlich das Lied des Verlustes, das nicht im Protokoll steht.
»Kehren wir um, ja? Ich glaube, ich möchte diesem Geruch nicht noch näher kommen.«
Sie sagte das Wort mit einer mißtrauischen Grimasse, der Reaktion, die bestimmten Gerüchen vorbehalten war, Mund und Nase zugehalten, die Augen zusammengekniffen bei der Vorstellung von kriminellen Machenschaften am Ursprung dieses Geruchs.
»Wahrscheinlich irgendwelche Kanalarbeiten. Kommt und geht. Noch ein Stück, ja.«
»Ich hab Ferien«, sagte sie.
»Und davon wirst du zimperlich? Gibt Leute, die essen Kamelfleisch mit bloßen Händen und gehen am nächsten Morgen wieder zur Arbeit.«
»Vorschlag. Wir gehen bis zu der Baustelle da vorne. Dann drehen wir um.«
»Was ist schon so ein kleiner Geruch«, sagte er.
Aber es war kein kleiner Geruch mehr. Es nahm zu, zog ihn immer mehr an, und er erinnerte sich an die alten Hotels und ihre Toiletten, Toiletten auf dem Flur, zum Glück, und er dachte an die öffentlichen Toiletten der Bahnhöfe, in der Nachbarkabine ein Fremder mit seiner eigenen Vorgeschichte aus fremden Speisen und intimen Gerüchen, durch England, Frankreich und Italien, aber was ihn immer mehr überwältigte, waren nicht die Gerüche der anderen – nur sein eigener.
Marvins Verdauung schien sich allmählich zu verändern, in grimmigen Etappen, während er und Eleanor Europa ostwärts durchquerten. Der Geruch wurde schlimmer, tiefer, nahm eine gewisse Dichte an, reifte und alterte, und inzwischen schauderte ihm vor dem tagtäglichen Augenblick nach dem Frühstück, wenn es Zeit für ihn wurde, sich auf die Toilette zu schleppen.
Wie heißt das Wort, unwürdig?
Marvin nannte seine Verdauung in Gedanken lieber Stuhl, ein Wort, das er zum ersten Mal von einem Militärarzt gehört hatte. Sein Stuhl wandte sich gegen
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