Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
Vom Netzwerk:
grundverschiedene Menschen, auch wenn sie es gar nicht waren, und er wußte, daß die Kraft dieser Ungläubigkeit haargenau dasselbe war, wenn man sie messen könnte, wie das Erstaunen über die Liebe.
    Doch in den tiefen Unterströmungen, in der Marvinigkeit seiner unausgesprochenen Tiefen gab es immer noch ein obskures Etwas, das ihn unruhig machte.
    Und als sie am Fenster vorbeitanzten, schaute er hinaus auf die Lichter der Bay Bridge, die durch den Nebel blinkten, und sah den alten, verlorenen Tanker dicht an seinem Ankerplatz liegen, verätzt und gemieden, und dann zählte er weiter bis Pier 7 und stellte fest, daß die Lucky Argus schon entladen und abgefahren war, mit der Flut ausgelaufen, ein dunkler Schatten mit, na, mit voller Kraft voraus in die großen, tiefen Gefahren der Nacht.

[Menü]
3
    I n dem Club ging nicht gerade die Post ab. Sieben Gäste, Sims und mich inbegriffen, und vier Typen standen auf der Bühne – ein spitzbärtiger Saxer und seine gebeugten Mitspieler.
    Ich wußte nicht, wo wir waren, hätte Long Beach oder Santa Monica oder irgendein undefinierbarer Vorort sein können. Dies war der dritte Club, in dem wir haltmachten, und mein schwacher Orientierungssinn war komplett ausgefallen. Big Sims zeigte sich heute abend nicht gesprächig, er zischte mit finsterer Entschlossenheit durch die Gegend, ein halber Drink und gleich weiter, wie ein Mann in einem epischen Gedicht, der einen Auftrag hat.
    »Hey Sims. Geh nach Hause, ja? Die Musik macht dir keinen Spaß. Du sollst nicht denken.«
    »Die Musik ist okay. Ist halt Musik.«
    »Aber denk nicht, du mußt mich hier rumführen. Geh nach Hause. Ich bleibe noch und nehm mir dann ein Taxi.«
    »Geh nach Hause.«
    »Ja, geh nach Hause. Aber vorher sagst du mir, auf wen du sauer bist.«
    »Sauer, ich doch nicht. Wenn du glaubst, das wäre sauer«, sagte er.
    Ein älterer Knabe brachte uns die Drinks, ein Typ mit Wattebausch in einem Nasenloch. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Monday Night Football at Roy Earley's Loins and Ribs. Es war nicht Montag, und wir waren nicht bei Roy Earley.
    Ich fragte: »Was ist passiert?«
    »Was ist passiert? Was passiert wohl zu Hause?«
    »Du hast dich mit Greta gestritten.«
    »Vergiß es«, sagte er. »Trink aus.«
    »Diese Typen da sind gar nicht mal schlecht.«
    »Ist halt Musik. Trink aus«, sagte er. »Dir liegt schwer was im Magen.«
    »Das ist nämlich so, wir streiten uns nie.«
    »Ihr streitet euch nie. Marian und ich streiten uns nie. Und wenn es doch passiert.«
    »Steckt es dir in den Knochen.«
    »Liegt dir im Magen, lastet schwer.«
    »Verflixt, wir streiten uns nie.«
    »Wir streiten uns nie, Marian und ich. Geh nach Hause und versöhn dich. Ich rufe mir ein Taxi. Kann ich mir von hier ein Taxi rufen?«
    »Du kriegst ein paar graue Haare«, sagte er. »Du verlierst ein paar Haare.«
    »Ich verlier eine Menge Haare. Aber du kriegst ein paar graue.«
    Der Tenor blies kubistische Töne, wir hatten eine Reihe halber Drinks intus, und der Drummer feuerte Rim Shots ab oder wie immer die heißen, und in dem nahen Lärm und der größeren Verwerfung einer Nachtwelt, die mir nicht vertraut war, versuchte ich zu verstehen, was Sims sagte.
    »Im Ernst, geh nach Hause. Ich komm schon klar. Ich mag diese Typen. Das Zeug groovt hart ab.«
    »Das ist Brother-Musik.«
    »Das ist hartgroovender, freischwirrender Jazz.«
    »Es ist Brother-Musik. Du hast deine Gründe, sie zu mögen, ich hab meine. Ich werde dir mal ein Bild zeigen, das ich zu Hause habe. Irre Foto, weiß nicht, aus den Fünfzigern. Charlie Parker im weißen Anzug irgendwo in einem Club. Ein irre, irre, irre Foto.«
    »In einem New Yorker Club.«
    Er warf mir einen drohenden Blick zu.
    »Du kennst das?«
    »Irre Bild«, sagte ich.
    »Halt. Du kennst es? In einem New Yorker Club?«
    »Er trägt einen weißen Anzug und diese Schuhe, ich kann mir nie merken, wie die heißen.«
    Mit einemmal dachte ich darüber nach, wie unsere Gesichter sich veränderten, wie ich versuchte, ein Zeichen im Blick eines anderen Mannes zu erspähen, das mir sagen konnte, wie schlimm es wirklich stand, und wie ich zugleich jeden Blickkontakt vermied, bis ich einen gewissen Vorteil erringen konnte. Und während der Raum ringsum pfiff und brummte, waren wir uns anscheinend einig – wenn alle Menschen dasselbe Gesicht trügen, müßte keiner mehr leiden.
    »Kann ich mir hier ein Taxi rufen? Geh nach Hause. Vertrag dich mit ihr. Fangt nicht an, die Sache zehn Stunden lang

Weitere Kostenlose Bücher